A | B | C | D | E | F | G | H | I | J | K | L | M | N | O | P | Q | R | S | T | U | V | W | X | Y | Z | Alle |
Staatsanwaltschaft
 
Die Rolle und die Funktion der Staatsanwaltschaft im deutschen Strafverfolgungssystem wurde lange sowohl kriminologisch, als auch kriminalpolitisch unterschätzt. Dabei übt die Staatsanwaltschaft aufgrund des in Deutschland geltenden Legalitätsprinzips (die Polizei darf Strafverfahren nicht selbst einstellen sondern muss jedem Verdacht nachgehen und die Akten danach der StA vorlegen) die wichtigste Filterfunktion im Strafverfahren aus. Die folgende Abbildung zeigt den erstmals von Kerner (19??) entwickelten Strafverfolgungstrichter mit Zahlen für das Jahr 2006. Dabei wird, ebenso wie in der ebenfalls einer Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes entnommenen tabellarischen Übersicht deutlich, dass (länderunterschiedlich) bis zu 70% aller an die StA abgegebenen Verfahren von dieser eingestellt werden. Insgesamt nur etwa ein Drittel aller Tatverdächtigen wird demnach auch verurteilt.




Quelle für beide Abbildungen: Justiz auf einen Blick, hsrg. vom Statistischen Bundesamt 2008; im Internet verfügbar unter www.destatis.de bzw. direkt unter http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Broschueren/JustizBlick,property=file.pdf



Die Staatsanwaltschaft, gerne als "Herrin des Strafverfahrens" bezeichnet, stand schon früh in der Kritik aufgrund ihrer weit reichenden Entscheidungskompetenz. Als "Richter vor dem Richter" (Kausch) würde sie die Sanktionsbefugnis, die verfassungsgemäß ausschließlich dem Richter obliegt, unterlaufen oder zum Teil sogar selbst ausüben.

Wenn die strafrechtlichen Ermittlungen der Polizei abgeschlossen sind, übersendet diese die Ermittlungsakten an die StA. Diese prüft, ob ggf. weitere Ermittlungen notwendig sind. Ist dies nicht der Fall, entscheidet sie, ob gegen einen Beschuldigten Anklage beim Strafgericht erhoben werden kann oder das Ermittlungsverfahren einzustellen ist, etwa wenn der Tatverdacht nicht ausreichend ist oder rechtliche Gründe der Strafverfolgung entgegenstehen. Eine Einstellung des Verfahrens kann aber von der Staatsanwaltschaft auch etwa bei geringfügigen Straftaten verfügt werden (Opportunitätseinstellungen). 2006 wurden in Deutschland knapp 5 Mio. Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft erledigt (s. Grafik).

Die Staatsanwaltschaft ist eingebunden auf der einen Seite in ihren eigenen Verwaltungsapparat, auf der anderen Seite in die Strukturen der Strafjustiz, der sie nicht nur zuarbeitet (z.B. durch Ermittlungen und Anklageschrift), sondern für die sie auch den Großteil der Vollstreckungsaufgaben erledigt.

Abhängig ist die Staatsanwaltschaft mehr oder weniger direkt von der Polizei bzw. den dort eingelieferten Anzeigen, denn nur selten wird eine Anzeige direkt bei der StA erstattet. In der Regel werden über 80% der Verfahren über die Polizei eingeleitet. Im einstelligen Prozentbereich liegen die Verfahren, die durch eine Steuer-/ Zollfahndungsstelle oder eine Verwaltungsbehörde eingeleitet werden.

Das Bild einer einheitlichen Staatsanwaltschaft täuscht. bereits eine erste, genauere Analyse Anfang der 1980er Jahre (Feltes 1984) hat gezeigt, dass die Erledigung sowohl überregional innerhalb der Bundesländer als auch innerhalb eines Bundeslandes oder sogar innerhalb eines Landgerichtsbezirkes ganz erheblich variiert, wobei der Gesamtanteil der Verfahren, die insgesamt vor Gericht gebracht werden, in allen Bundesländern relativ konstant ist.

2006 wurden etwa drei von zehn der endgültig von der Staatsanwaltschaft erledigten Ermittlungsverfahren vor ein Strafgericht gebracht, 14 % durch Anklage (davon 1 % durch Antrag auf ein besonderes, in der Regel beschleunigtes Anklageverfahren) und weitere 14 % durch Strafbefehlsantrag. 62 % der endgültig erledigten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wurden eingestellt, und zwar 31 %, weil die Tat nicht nachweisbar war, 25 % aus Opportunitätsgründen ohne Auflagen und weitere 6 % mit Auflagen. Auch hierbei waren erhebliche Unterschiede in den Ausprägungen für einige Länder sichtbar. Die höchste Einstellungsquote wies Hamburg mit 71 % auf, die niedrigste Bayern mit 54 %.

Auch 2006 unterlag die Anklagerate regionalen Schwankungen zwischen 22 % in Schleswig-Holstein und 33 % in Bremen (s. Abb. oben "Anklage- und Einstellungsquoten"). Verfahrenseinstellung ist statistisch gesehen Regelentscheidung der Staatsanwaltschaft, wobei Anklage- wie Einstellungsquoten durch die Struktur der registrierten Kriminalität beeinflusst werden. Auch die Aufklärungsarbeit der Polizei soll eine Rolle spielen, aber auch Ermessensentscheidungen der Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung insbesondere von geringfügigen Delikten (bspw. im Verkehrsbereich, bei Diebstählen oder Drogendelikten). Letzteres ist teilweise in (z.B. für den Verkehrsbereich sehr detaillierten) internen Verwaltungsvorschriften geregelt.

In der früheren Studie von Feltes zeigte sich, dass - durchaus im Gegensatz zur Annahme, dass Strafverfahren aus dem Bereich der "normalen" Kriminalität eher durch Anklage erledigt werden als Verkehrsdelikte - bei Verkehrsdelikten keine deutlich niedrigere Anklagequote zu verzeichnen ist. Zudem liegt die Quote der Strafbefehle dort höher.

Obwohl die Staatsanwälte, die Verkehrsdelikte bearbeiten, eine höhere Fallbelastung haben, stellen sie damit weniger Verfahren ein. Eine Beobachtung, die der allgemeinen Tendenz, vermehrtem Fallaufkommen durch vermehrte Einstellungen zu begegnen, widerspricht. Die Analyse der Fallentwicklung und Erledigungsstruktur in den 1980 Jahren zeigte, dass bei insgesamt steigender Fallbelastung der Anteil der informellen Erledigungen (Einstellungen) bei Staatsanwaltschaft wie Gericht anstieg, während die Anklage- und Verurteilungsquote zurückging. Die Tendenz zur informellen Erledigung hielt übrigens auch danach noch, als ein Rückgang in der Gesamtzahl der Verfahrenserledigungen zu verzeichnen war.

Die Staatsanwaltschaftsstatistik erfasste früher u.a. auch die Stunden, die ein Staatsanwalt für Sitzungsdienst und eigene Ermittlungstätigkeit aufwendet. Das Ergebnis war (und dürfte es wohl noch immer sein) für die Staatsanwaltschaft als "Herrin des Verfahrens" niederschmetternd. Eine eigene Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft findet praktisch nicht statt. Von den in der Statistik damals erfassten Arbeitsstunden für Sitzungsdienst und eigene Ermittlungstätigkeit (ohne die Bürostunden, s.u.) werden maximal 5% für die Vernehmung von Beschuldigten und maximal 2% für Ortsbesichtigungen verwendet, wobei diese Zahlen noch überhöht sind, da einige Sachbearbeiter mehr Stunden für Vernehmungen aufwenden als andere (z.B. Staatsanwälte, die Verfahren gegen Polizeibeamte, gegen Ausländer oder besonders ermittlungsintensive Sachen im Rahmen von Schwerpunktstaatsanwaltschaften bearbeiten), und somit der überwiegende Teil der Staatsanwälte überhaupt nicht selbst ermittelnd tätig wird. Die Analyse der Hamburger StA-Statistik hatte dazu gezeigt, dass pro Jahr etwa 200 bis 400 Arbeitsstunden für Sitzungsdienst (und eigene Ermittlungen, sofern vorhanden) aufgewendet werden: Bei rund 40 Arbeitswochen im Jahr entspricht dies pro Woche einem halben bis einem Arbeitstag "Sitzungsdienst". Berücksichtigt man weiterhin die Fallbelastung der einzelnen Staatsanwälte, so muss man von einer eher verwaltungsmäßigen Routineerledigung von Verfahren ausgehen. Die Erledigung von etwa 8-10 Verfahren pro (Büro-)Arbeitstag erlaubt keine differenzierteren Betrachtungen zu Tat und Täter. Formalisierte Verfahrensabläufe herrschen bei Polizei und Staatsanwaltschaft vor, und in vielen Fällen gibt die Staatsanwaltschaft die von der Polizei angelegte Akte ohne Kommentar oder Änderung, nur mit einem entsprechenden Verfahrensantrag versehen, an das Gericht oder an die (eigene) Geschäftsstelle zur Einstellung weiter. Dabei zeigte die Fallbelastung der Staatsanwälte in verschiedenen Bundesländern starke Unterschiede auf.

Die Fallentwicklung zwischen 1995 und 2005 zeigt, dass sich der Anstieg bei den insgesamt erledigten Verfahren (von 4,2 Mio. im Jahr 1995 auf fast 5 Mio. 2005) nicht in einem Anstieg der Anklagen auswirkt. Im Gegenteil: Während die Anklagequote 1995 bei 12,5% lag, betrug sie 2005 11,7%. Offensichtlich begegnet die StA einem Verfahrensanstieg nach wie vor dadurch, dass vermehrt Verfahren eingestellt werden. Die aufwändige Ressource Anklage wird entsprechend weniger eingesetzt.



Eigene Grafik anhand von Daten der Rechtspflegestatistik - Stat. Bundesamt VI B, 2005

Rund 88% der Verfahren werden innerhalb von 6 Monaten erledigt und 96% innerhalb von einem Jahr.

Die Berechnungen von Heinz (s. Abb. unten) zeigen, dass selbst von den anklagefähigen Ermittlungsverfahren nur rund 28% tatsächlich zur Anklage gebracht werden; weitere 27% werden im Strafbefehlsverfahren erledigt. Geht man von der zahl aller polizeilich ermittelten Tatverdächtigen aus, so liegt die Anklagequote hier sogar bei lediglich 12,4%.


Quelle der Tabelle: Heinz 2008

Literatur
- Blankenburg, E.; Sessar, K.; Steffen, W.: Die Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle. Berlin 1978.
- Feltes, Th.: Die Erledigung von Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft. Kriminologisches Journal 1984. 50 ff.
- Heinz, Wolfgang: Bei der Gewaltkriminalität junger Menschen helfen nur härtere Strafen! Fakten und Mythen in der gegenwärtigen Jugendkriminalpolitik. In. Neue Kriminalpolitik 2/2008; im Internet unter http://www.uni-konstanz.de/rtf/kik/ verfügbar.

Thomas Feltes
© 2006-2024 Thomas Feltes | Impressum | Datenschutz