A | B | C | D | E | F | G | H | I | J | K | L | M | N | O | P | Q | R | S | T | U | V | W | X | Y | Z | Alle |
Straftheorien
 
Bei den Straftheorien handelt es sich um Aussagen über die Rechtfertigung des Strafrechts. Sie werden herkömmlich in absolute und relative Theorien sowie Vereinigungstheorien unterteilt. Nach den absoluten Straftheorien besteht der Sinn der Strafe allein in der Vergeltung der begangenen Unrechtstat. Die Strafe wird durch die Gerechtigkeit gefordert und legitimiert. Sie ist frei von Erwägungen über ihre gesellschaftliche Wirkungen und deshalb "absolut".
 
Die relativen Straftheorien sehen die Aufgabe des Strafrechts demgegenüber in der Verhinderung künftiger Delikte, beziehen sich also auf den Zweck der Verbrechensvorbeugung und sind deshalb relativ. Nach der Theorie der Spezialprävention besteht die Aufgabe der Strafe darin, den verurteilten Täter von weiteren Delikten abzuhalten. Dies kann durch Besserung (positive Spezialprävention), Individualabschreckung oder Sicherung (negative Spezialprävention) geschehen.
 
Nach der Straftheorie der Generalprävention hat das Strafrecht die Aufgabe, durch Einwirkung auf die Allgemeinheit Straftaten zu verhindern. Dies soll zum einen dadurch geschehen, das potentielle Täter durch die Furcht vor dem Strafübel von der Tatbegehung abgehalten werden (negative Generalprävention). Außerdem soll durch die Bestrafung die Rechtstreue der Bevölkerung gefestigt werden (positive Generalprävention): Die Bestrafung soll die durch den Normbruch in Frage gestellte Geltung der Norm bestätigen, den Wertgehalt der verletzten Norm unterstreichen und zeigen, dass sich die Rechtsordnung gegenüber dem Rechtsbruch durchsetzt. Außerdem soll durch eine als gerecht empfundene Strafe erreicht werden, dass sich die Bevölkerung über den Rechtsbruch beruhigt und nicht zur Selbsthilfe greift. Genugtuung für das Opfer wird überwiegend nicht als Strafzweck angesehen.
 
Die Vereinigungstheorien verbinden Elemente der absoluten und der relativen Straftheorien miteinander. Nach den vergeltenden Vereinigungstheorien dient die Strafe sowohl der Vergeltung als auch der Spezial- und Generalprävention, wobei die präventiven Strafzwecke nur im Rahmen eines gerechten Schuldausgleichs verfolgt werden dürfen. Nach der präventiven Vereinigungstheorie sind Aufgaben des Strafrechts allein Spezial- und Generalprävention. Die Vergeltung ist keine Aufgabe der Strafe, vielmehr begrenzt das Schuldprinzip lediglich die nach präventiven Gesichtspunkten festzulegende Strafe.
 
Die absolute Straftheorie wird heute von der herrschenden Meinung abgelehnt, weil die Verwirklichung absoluter Gerechtigkeit nicht Aufgabe des Staates ist. Die Theorie ist aber jedenfalls insoweit weiterhin von Bedeutung, als auch in einem mit der Delinquenzprävention begründeten Strafrecht die Bestrafung stets in gerechter Weise erfolgen muss. Gegen die Spezialprävention wird eingewendet, dass sie gegen die Autonomie des Täters verstoße und praktisch erfolglos sei. Geht von einem Täter die Gefahr weiterer Delikte aus, darf dieser Gefahr jedoch im Interesse der Allgemeinheit entgegengewirkt werden. Gegen die Annahme, dass das Strafrecht spezialpräventiv generell unwirksam ist, spricht, dass viele bestrafte Täter nicht rückfällig werden und Behandlungsprogramme nach neueren Befunden der Behandlungsforschung die Rückfallquote in einem zwar begrenzten, aber doch erheblichen Ausmaß senken. Zweifelhaft kann jedoch sein, welche Reaktion bei einem bestimmten Täter spezialpräventiv am erfolgversprechendsten ist.
 
Gegen die generalpräventive Straftheorie wird vorgebracht, dass sie den Täter als bloßes Mittel zum Zweck benutzte und deshalb gegen die Menschenwürde verstoße. Außerdem wird die generalpräventive Wirksamkeit des Strafrechts bezweifelt. Der Einwand eines Verstoßes gegen die Menschenwürde greift unter der Geltung des Schuldprinzips nicht durch. Hat der Täter schuldhaft gehandelt, ist der Staat berechtigt, ihn mit einer schuldangemessenen Strafe zu belegen, wenn dies aus Gründen des Gemeinwohls geboten ist. Inwieweit das Strafrecht generalpräventiv wirkt, ist noch nicht hinreichend geklärt. Die bisherigen Befunde deuten darauf hin, dass ein von potentiellen Tätern als ernsthaft eingeschätztes Entdeckungsrisiko die Deliktshäufigkeit zu verringern vermag, während die Bedeutung der Strafschwere geringer ist. Danach kann regelmäßig nicht angenommen werden, dass mit sehr hohen Strafen ein zusätzlicher Abschreckungseffekt verbunden ist. Möglich erscheint eine indirekte generalpräventive Wirkung des Strafrechts durch Abstützung von moralischen Bewertungen und von informellen Kontrollprozessen in der Gesellschaft.
 
Das geltende deutsche Strafrecht enthält keine ausdrückliche Regelung der Strafzwecke. Aus den Vorschriften über die Strafzumessung ergibt sich aber, dass dem geltenden Recht eine Vereinigungstheorie zugrunde liegt. Durch die Regelung des § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB, nach der die Schuld des Täters die Grundlage für die Zumessung der Strafe ist, wird der gerechte Schuldausgleich als Grundprinzip der Strafzumessung festgelegt. Mit der Vorschrift des § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB, nach der die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, zu berücksichtigen sind, wird die Spezialprävention als Strafzweck anerkannt. In einer Reihe von weiteren Vorschriften - z.B. § 47 Abs.1 - stellt das StGB auf den Begriff der Verteidigung der Rechtsordnung ab, der Elemente der Generalprävention enthält. Diesen Regelungen entspricht die Rechtsprechung, nach der die Strafe in erster Linie gerechter Schuldausgleich ist, die schuldangemessene Strafe möglichst spezialpräventiv auszugestalten ist und in Ausnahmefällen im Rahmen des Schuldangemessenen auch generalpräventive Gesichtspunkte berücksichtigt werden dürfen.
 
Literatur:
 
- Lampe, E.-J.: Strafphilosophie. Köln u.a. 1999. Neumann, U.;
- Schroth, U.: Neuere Theorien zu Kriminalität und Strafe. Darmstadt 1981.
- Roxin, C.: Strafrecht Allgemeiner Teil Band I. 4. Auflage München 2006.

 

Dieter Dölling
© 2006-2024 Thomas Feltes | Impressum | Datenschutz