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Armut
 
Der Begriff der Armut wird ganz allgemein zur Bezeichnung sozialer Benachteiligung und Unterversorgung verwendet. Es wird zunächst zwischen absoluter und relativer Armut, man spricht auch von absoluter und relativer Deprivation, unterschieden. Nach Hauser u. a. ist (absolute) Armut im ur-sprünglichen Sinn "die Gefährdung der physischen Existenz durch eine nicht ausreichende Versorgung mit notwendigen Lebensmitteln". Eine solche Definition orientiert sich notwendigerweise am Konzept des Existenzmini-mums, das wiederum von Gesellschaft zu Gesellschaft variiert, so dass eine allgemein gültige Definition von absoluter Armut nicht mehr formuliert werden kann. Es erscheint deshalb sinnvoll, Armut als relative Größe zu betrachten. Nach Hartmann ist Armut eine "relative Schlechterstellung einer Bevölkerungsgruppe in einer Gesellschaft; die Relativität gilt dabei in zwei-facher Hinsicht: relativ im Hinblick auf den potentiellen Wohlstand der Bevölkerung und im Hinblick auf den potentiellen Reichtum einer Gesellschaft".
Die traditionelle Konzeption von Armut bzw. Deprivation basiert auf einer ökonomisch-materiellen Betrachtungsweise (Einkommensarmut). Es wird davon ausgegangen, dass ein ausreichendes Einkommen genügt, um die individuellen Bedürfnisse zu sichern und so die betroffenen Personen und Haushalte einer Armutsdefinition zu entziehen. Durch diese Operationalisierung lassen sich erneut Abstufungen in bekämpfte und verdeckte Armut bilden. Unter der Kategorie bekämpfte Armut faßt man die Personen und Haushalte zusammen, die Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) erhalten und in den amtlichen Statistiken als solche ausgewiesen sind. Unter die Kategorie verdeckte Armut werden Personen und Haushalte subsumiert, deren Nettoeinkommen unter dem Anspruch auf "laufende Hilfe zum Lebensunterhalt" nach dem BSHG liegt und die ihren Hilfeanspruch nicht geltend machen, also mit einem Einkommen leben, welches unter dem gesellschaftlich anerkannten Existenzminimum liegt. Eine umfassendere Beschreibung wird durch die Unterscheidung in primäre, sekundäre und tertiäre Armut zu erreichen ver-sucht. Die Definition von primärer Armut deckt sich dabei weitgehend mit der der absoluten Armut. Sekundäre Armut bezeichnet einen Mangel an pre-stigebesetzten Gebrauchsgütern und nicht-materiellen Statussymbolen. Unter tertiärer Armut werden individuelle, nicht materielle Lebensnotstände (z. B. Einsamkeit) verstanden. Armut ist kein notwendiges Charakteristikum einer Gesellschaft - es gibt auch heute noch Gesellschaftsformen, in denen es keine materielle Armut gibt - sondern Begleiterscheinung sozialen Wandels. Armut ist deshalb kein natürliches, individuell zu verantwortendes Merkmal, sondern immer ein Produkt sozialer Gegebenheiten in Verbindung mit individuellen Umständen. Je nach der Definition des Forschers schwanken die Angaben über Armut in der Bundesrepublik zwischen 2 % und ca. 25 % Anteil an der Gesamtbevölkerung.
Im Bereich abweichenden Verhaltens wurde in den verschiedensten Formen versucht, Zusammenhänge zwischen Armut und *Abweichung nachzuweisen. Die Ergebnisse der Forschungen sind sehr kontrovers. Einigkeit besteht darüber, dass relative Deprivation zu einer Zerstörung sozialer Bindungen und familiärer Strukturen führt, was zu Frustration und *Aggressionen, die zum Teil ihre Entladung u. a. in Gewaltdelikten finden, füh-ren kann. In den Vereinigten Staaten wurden Zusammenhänge zwischen Armut und *Selbstmord, Kindesmißhandlung, Einweisung in psychiatrische Krankenhäuser sowie Staatsgefängnisse nachgewiesen. Innerhalb der *Kriminalitätstheorien hat das Konzept der relativen Deprivation, insbesondere in der radikalen Kriminologie, deren Wurzeln in der marxistischen Sozialtheorie liegen, eine besondere Bedeutung.

Literatur:
- Roth, J.: Armut in der Bundesrepublik. Reinbek b. Hamburg 1979. Kramer, R.: Strukturierte Ungleichheit, Verbrechensopfer und Strategien sozialer Kontrolle. In: Janssen, H. und Kerner, H.-J.: Verbrechensopfer, Sozialarbeit und Justiz. Schriftenreihe der Deutschen Bewährungshilfe e. V. Neue Folge Band 3, Bonn-Bad Godesberg 1985, 371-406.

Entnommen mit freundlicher Genehmigung des Kriminalistik-Verlages Heidelberg aus der gedruckten Version des Kriminologie-Lexikons, Stand der Bearbeitung: 1991

Helmut Janssen
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