Aussage- und Vernehmungspsychologie Die Aussage- und Vernehmungspsychologie versucht die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Wahrnehmung und des Gedächtnisses aufzuzeigen, um daraus Schlüsse für eine möglichst erfolgreiche Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von polizeilichen und gerichtlichen Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen zu ziehen, in dem Sinne, dass die im Rahmen der Strafprozessordnung erwünschten Informationen so zuverlässig wie möglich erlangt werden können.
Seit Anfang der 50er Jahre werden Psychologen als Gutachter zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen und Beschuldigten herangezogen. Inzwischen gehört es nach der Auffassung des Bundesgerichtshofes mit zur Aufklärungspflicht des Richters, in Fällen, in denen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des (z.B. jugendlichen) Zeugen bestehen, einen Sachverständigen zu Rate zu ziehen, der sich u. a. der Methoden der Aussage- und Vernehmungspsychologie bedient, um die Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Dennoch bildet die Glaubwürdigkeitsprüfung durch einen Sachverständigen die Ausnahme, denn grundsätzlich wird von dem Richter nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes erwartet, dass er über die zur Ausübung seines Amtes erforderliche Menschenkenntnis verfügt, Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.
Es ist jedenfalls für alle Vernehmungspersonen unabdingbar, sich mit den Methoden der Aussage- und Vernehmungspsychologie zu befassen, um dem Zeugen oder Beschuldigten einen optimalen Aussagerahmen zu bieten.
Häufig beeinflussen die zuerst festgehaltenen Aussagen und Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten ebenso wie die ersten Wahrnehmungen der Vernehmungspersonen von den Vernommenen das gesamte weitere Verfahren bis zum Urteil. Deshalb ist es wichtig, dass bereits in einem möglichst frühen Stadium des Verfahrens, d.h. möglichst bereits bei der ersten informellen Befragung, die Faktoren, die eine Aussage beeinflussen, berücksichtigt werden.
Neben der Möglichkeit, dass Zeugen und Beschuldigte sich irren können, muss die Lüge als Fehlerquelle berücksichtigt werden.
Auf den Ebenen - Wahrnehmung, Erinnerung, Übermittlung, persönlicher Eindruck der Vernehmungsperson von der Aussageperson - kann die Zuverlässigkeit der Aussage geschmälert werden.
Jede Wahrnehmung wird von den menschlichen Erfahrungen,
Einstellungen,
Vorurteilen und Bedürfnissen (soziale Faktoren) in der Weise mitbestimmt, dass der neuen Erfahrung oder Wahrnehmung ein akzeptabler Sinn zu geben versucht wird, d.h., man bemüht sich, sie mit den schon vorhandenen Erfahrungen in Einklang zu bringen. Zwischen Wahrnehmung und Wiedergabe laufen psychologische Prozesse, wie Abwehr, Selektion und Verarbeitung, Umwelterlebnisse, Reaktionen auf das Ereignis, Kontakte und Gespräche, ab, die den gespeicherten Wahrnehmungsinhalt modifizieren. Individuelle Faktoren, wie Geschlecht, Alter, gesundheitliche Defizite (z.B. Schwerhörigkeit, Kurzsichtigkeit, etc.), Beziehung zu den Beteiligten und eigene Persönlichkeit beeinflussen ebenso die Aussage wie situative Faktoren, das sind beispielsweise Dauer der Beobachtung des Ereignisses, die Komplexität des Geschehens, die Schwere der Tat, Beleuchtungsverhältnisse, Erregung, Stress und andere Emotionen oder auch die Normalität des Ereignisses. Vernehmungsfaktoren, insbesondere Zeitpunkt der Befragung, Dauer, Form und Stil, oder das Medium der Befragung sind für die Aussage von Belang.
Bei der eigentlichen Ereigniswiedergabe handelt der Zeuge oder Beschuldigte noch mehr aktiv als bei der Wahrnehmung, er agiert als Individuum in einem sozialen Umfeld, und selbstverständlich gleichzeitig als individuelle Persönlichkeit mit eigenen Interessen, Erfahrungen, Vorentscheidungen,
Einstellungen und Erwartungen.
Zeugen, die in amtlicher Eigenschaft (Polizisten, Richter, Staatsanwälte) Wahrnehmungen gemacht haben und dienstlich täglich mit ähnlich gelagerten Fällen befasst sind, können sich eher schlechter erinnern als andere Zeugen, denn ähnliche Wahrnehmungen und Routinen führen bei ihnen zu einem schnelleren Vergessen einzelner Details als bei Zeugen, für die eine derartige Wahrnehmung ein außergewöhnliches, mitunter einmaliges Vorkommnis darstellt. Allenfalls an außergewöhnliche Zwischenfälle bestehen lebendige Erinnerungen. Auch spezielle Trainingsprogramme oder langjährige Diensterfahrung haben keinen nachweisbaren Einfluss auf die Wiedergabeleistung.
Bei polizeilichen Vernehmungen sollte die Vernehmungsperson bestimmte Rahmenbedingungen beachten.
Zeitliche und inhaltliche Überforderung des zu Vernehmenden reduzieren die Wahrscheinlichkeit einer verlässlichen Aussage. Bestimmte Fakten - wie Zahlen, Daten, genaue Wortlaute und Phasenabläufe des Geschehens, Entfernungen und Zeitspannen - werden naturgemäß schlecht erinnert. Die Erinnerungsleistung wird zusätzlich durch Scheu, Angst und Aufregung negativ beeinflusst. Ebenso überfordern regelmäßig lange Vernehmungen von über 60 Minuten ohne Pausen den Aussagenden.
Als situativer Rahmen führt eine gelockerte Vernehmungsatmosphäre, die zusätzlichen Druck auf den Aussagenden vermeidet, im Allgemeinen zu zuverlässigeren Aussagen als Einschüchterungen oder emotionale Belastungen. Bereits die Begrüßung sollte dem Aussagenden so viele Befürchtungen wie möglich nehmen. Lange Wartezeiten, Ungewissheit, Verunsicherung und Scheu vor dem Verfahren bedeuten für den Aussagenden eine starke psychologische Belastung. Aktives Zuhören bekundet Interesse und signalisiert, dass der Vernehmende an den Informationen des Aussagenden interessiert ist und den Zeugen oder Beschuldigten als Persönlichkeit ernst nimmt.
Darüber hinaus entscheidet die Art der Fragen über die Informationen, die der Vernehmende erhält, weshalb möglichst auch der genaue Wortlaut der Frage mitprotokolliert werden sollte. Die meisten Informationen erhält der Vernehmende meist bei den sog. offenen Fragen, die lediglich das Thema vorgeben, denn diese veranlassen den Befragten, möglichst viele Fakten und Beobachtungen in einem zusammenhängenden Bericht darzustellen. Obwohl gerade Suggestivfragen in der Vernehmungspraxis häufig gestellt werden, bergen tatsächliche oder versteckte Suggestivfragen sowie Konträrfragen (entweder-oder) oder multiple-choice-Fragen (aus mehren vorgegebenen Antwortmöglichkeiten wird eine ausgewählt), das größte Risiko der Verfälschung und von falschen Vorgaben in sich.
Die Glaubhaftigkeit einer Aussage wird methodisch anhand der Nullhypothese überprüft, d.h., der zu begutachtende Sachverhalt (also die Glaubhaftigkeit der Aussage) wird so lange negiert, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. In der Praxis wird die Aussage meist nach Realitäts- und Phantasiesignalen beurteilt. Zu den Realitätskriterien, die für eine Glaubhaftigkeit sprechen, gehören Details (Komplikationen, Gesprächskennzeichen, Deliktstypik), Individualität (Originalität, Gefühle, Unverständnis, Mehrdeutigkeit / Missverständnis), Verflechtung, Strukturgleichheit (Gleichgewichtigkeit, Tempo), Nichtsteuerung (Umkehrung der Reihenfolge, logische Stützung, Homogenität), Konstanz und Erweiterung (Lückenfüllung, wechselseitige Ergänzung). Als sog. Lügensignale gelten Zurückhaltung (Verweigerung, Verarmung, Flucht, Unklarheit), Unterwürfigkeit, linguistische Signale (Versprecher, verräterische Redeweisen, Widersprüchlichkeit bei Wortwahl und Inhalt), Bestimmtheit (Genauigkeit, Stereotype), Dreistigkeit, Begründung, Kargheit (Abstraktheit, Glattheit, Zielgerichtetheit) und Strukturbruch (der Lügner bleibt so lange wie möglich bei der Wahrheit, bei dem Übergang zur Lüge erfolgt dann der Strukturbruch).
Gegenstand der Forschung in der Aussagepsychologie war und ist auch die Frage, ob und wie Kinder und Jugendliche, insbesondere als
Opfer von Sexualdelikten, durch Vernehmungen vor der Polizei oder vor Gericht geschädigt werden können. Die Vernehmung selbst hat nach diesen Forschungen offensichtlich relativ geringen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung, sofern sie entsprechend zurückhaltend geführt wird. Allerdings können Nebenumstände der Vernehmung, beispielsweise anwesende Personen, und der konkrete Ablauf des
Strafverfahrens - Vorladungen, Verhalten der Eltern, etc. - entscheidend negativ wirken. Auch aus diesem Grund sollen durch Ton- und Videovernehmungen Kinder und Jugendliche vor mehrfachen Aussagen geschützt werden. Ferner befasst sich die Aussagepsychologie mit den entwicklungsbedingten Aussagefähigkeiten von Kindern. Verlässliche Darstellungen werden grundsätzlich ab einem Alter von 4 Jahren erwartet werden können.
Literatur:
- Bender, R. / Nack, A.: Tatsachenfeststellungen vor Gericht (Band I), Glaubwürdigkeits- und Beweislehre (Band II), München 1995;
- Kirchhoff, G.: Der Verkehrsunfall im Zivilprozess - Von der Schwierigkeit, Zeugen zu glauben -, MDR 1999, S. 1473 - 1479
Michaela Franke