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Aggression
 
Der Begriff Aggression bedeutet vom lateinischen Verbstamm her übersetzt: herangehen, angreifen. Entsprechend versteht man unter Aggression jedes Verhalten, das auf eine Schädigung anderer Individuen oder Gegenstände ausgerichtet ist. Aggressive Gefühle werden nicht als Aggression bezeichnet, sondern stellen vielmehr eine eigene Kategorie dar. Die Begrifflichkeiten werden allerdings nicht einheitlich verwendet. Kriminologische Bedeutung haben typisch strafrechtlich relevante Aggressionen wie Körperverletzungen und Sachbeschädigungen. Besonders schwer wiegende Formen aggressiven Verhaltens bezeichnet man umgangssprachlich auch als Gewalt; im Deliktsschlüsselkatalog der PKS findet sich unter Summenschlüssel eine entsprechende Kategorie Gewaltkriminalität, die diverse Straftaten wie Mord oder Vergewaltigung zusammenfasst. Aktuelle Themenbereiche, die unter dem Label Aggression behandelt werden, sind School Shootings und Cyberbullying.
Die Aggressionsforschung unterscheidet instrumentelle und feindselige Aggressionsformen: bei der instrumentellen Aggression ist die Aggression Mittel zum Zweck der Zielerreichung, z. B. die Anwendung von Gewalt beim Diebstahl zur Erleichterung der Wegnahme als Erlangungsaggression. Bei der feindseligen Aggression ist das Verhalten gleichzeitig von entsprechenden Gefühlen emotional gefärbt wie beim Angriff einer Person auf einen unsympathischen Konkurrenten. Aggressionen können aktiv und passiv sowie körperlich oder verbal z. B. in Form von Beleidigungen oder Ignorieren stattfinden. Eine spezielle Form der Aggression ist der unkontrolliert-impulsive Affektausbruch.

 
Die Kriminologie behandelt das Thema Aggression klassischerweise unter dem Gesichtspunkt der individuellen Täteraggression als Ursache bestimmter Kriminalitätsformen.
Es gibt drei bedeutende Erklärungsmodelle zur Entstehung aggressiven Verhaltens vorrangig aus dem Bereich der psychologischen Kriminalitätstheorien:
• Trieb- und Instinkttheorien
• Frustrations-Aggressions-Hypothese
• Lerntheorien.
Die Trieb- und Instinkttheorien, nach denen sich das menschliche Agg-ressionsniveau regelmäßig periodisch auflädt und sich bei Erreichen einer kritischen Marke entladen muss, gelten als überholt und haben nur noch historischen Wert. Zu den bekanntesten Vertretern der Aggression als Trieb und Automatismus gehören Sigmund Freud und Konrad Lorenz.
Die Frustrations-Aggressions-Hypothese wurde von Dollard & Miller formuliert und gilt ebenfalls nur mit Einschränkungen. Vereinfacht formuliert besagt sie, dass auf jede Frustration als Störung einer zielbezogenen Handlung Aggression folgt. Die Frustrations-Aggressions-Theorie gilt in dieser Absolutheit als nicht haltbar. Aggression als Folge der Nichterfüllung eines Bedürfnisses ist lediglich eine mögliche Reaktion auf Frustration neben beispielsweise Niedergeschlagenheit oder Ansporn.
Die Lerntheorien gelten demgegenüber heute noch als gültige und aussagekräftige Theorien. Skinner und Bandura gehören zu den Begründern dieser Theorietradition. Aggressionen sind nach dieser Theorie das Ergebnis von Lernprozessen, insbesondere Verstärkungslernen (Lernen durch positive/negative Konsequenzen) und Beobachtungslernen. Wenn aggressives Verhalten durch positive Konsequenzen verstärkt wird, tritt es später mit größerer Wahrscheinlichkeit wieder auf, bei negativen Konsequenzen verhält es sich umgekehrt. Je unmittelbarer eine Konsequenz auf ein Verhalten folgt, desto stärker beeinflusst diese das Verhalten. Deshalb sollten aus kriminologisch-psychologischer Sicht Strafen relativ schnell auf eine Straftat folgen. Typische positive Verstärker sind materielle Werte bei Eigentumsdelikten oder Statusgewinn bei Bandenkriminalität. Neben dem Verstärkungslernen spielt das Beobachtungslernen eine bedeutende Rolle. Hier werden aggressive Verhaltensweisen durch Beobachtung oder Imitation anderer Personen erlernt. Als Verhaltensvorbilder kommen Familienmitglieder, die Peer-group, aber auch reale oder fiktive Personen aus den Massenmedien in Frage. Gerade die Bedeutung von Gewaltdarstellungen in Massenmedien wie Computerspielen oder Film/Fernsehen werden immer wieder kontrovers diskutiert, sind aber zumindest als ein Risikofaktor anerkannt.
Das Hauptaugenmerk liegt bei den Lerntheorien auf den situativen Verhaltensdeterminanten. Demgegenüber suchen biologische Erklärungsmodelle die Ursachen für aggressive Verhaltensweisen in der Person des Aggressors, d. h. in seinen Genen oder Hirnstrukturen. Entsprechende Forschungen finden unter dem Stichwort der Biokriminologie statt. Die individuelle Bereitschaft (Disposition) aggressives Verhalten zu zeigen bezeichnet man als Aggressivität. Eine gewisse Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die antisoziale Persönlichkeitsstörung oder auch das Machtmotiv als Persönlichkeitszug. Letzteres wird häufig im Zusammenhang mit Sexualdelikten angeführt.
Die moderne Aggressionsforschung bevorzugt bei der Erklärung der vielfältigen aggressiven Phänomene multikausale Erklärungsmodelle: Aggressives Verhalten beruht immer auf dem Zusammenspiel mehrerer ursächlicher Anlage- und Umweltfaktoren, deren Gewicht von Fall zu Fall unterschiedlich sein kann. Gesellschaftliche Makro-, situative Mikrofaktoren und individuelle Dispositionen bilden die Basis aggressiven Verhaltens.
Mit dieser Sichtweise sind auch die jüngeren Rational-Choice- oder auch Kosten-Nutzen-Theorien vereinbar: Danach bestimmt das Ergebnis eines Abwägungspro-zesses von Vor- und Nachteilen des aggressiven Verhaltens - wie die Aussicht be-stimmter Handlungsergebnisse und deren Wert - die Wahrscheinlichkeit der aggres-siven Verhaltensäußerungen.
Die gängigen Aggressionstheorien werden in der Kriminologie bevorzugt zur Erklä-rung der Gewaltkriminalität angeführt. Da ein bedeutender Teil der registrierten Ge-waltdelikte von sogenannten Unterschichtsangehörigen begangen wird, bieten sich allerdings sozialisations- und kontrolltheoretische Erklärungen ebenso an. Die reinen Aggressionstheorien haben für die Kriminologie eher abstrakten Wert. Für die Praxis forensischer Begutachtung müssen sie in jedem Einzelfall konkretisiert werden. Bei der Frage des Umgangs mit Aggression ist in der Literatur eine Verschiebung von therapeutischen hin zu präventiv-vorbeugenden Maßnahmen deutlich erkennbar.

 
In psychoanalytisch geprägten Texten erfährt der Begriff der Aggression im weiteren Sinne noch in einem anderen Zusammenhang, nämlich dem Strafbedürfnis der Allgemeinheit kriminologische Wirksamkeit. Demnach leiten die normtreuen Gesell-schaftsmitglieder ihre aggressiven Impulse auf den Straftäter durch seine Bestrafung um und können auf diese Weise ihre eigenen Aggressionen in erlaubter Form ausleben. Nach den psychoanalytischen Überlegungen zum Strafverlangen der Gesellschaft braucht diese quasi den Straftäter in der Funktion eines Sündenbocks. Entsprechende Gedanken, in denen das Kriminaljustizsystem und dessen Rolle im Prozess der Kriminalitätszuschreibung kritisch hinterfragt wurden, fanden v. a. mit dem Aufkommen der Kritischen Kriminologie zunehmende Bedeutung. Der Begriff der Aggression überschneidet sich hier häufig mit Begriffen wie Macht, strukturelle Gewalt, Herrschaft und Autorität, die dem System von repressiven Strukturen inne-wohnend gesehen werden.

 
Literatur:
- Kerwien, E. V. / Kahl, W. Kriminalitätsforschung und Prävention. Berichte zu zwei Berliner Tagungen im November 2009. Forum Kriminalprävention, 01/2010.
- Piefke, M. / Markowitsch, H. J. Genetisch-biologische und umweltbedingte Determi-nanten von Aggression und Gewalt. Der Kriminalist, 01/2009.
- Nolting, H.-P. 2007. Lernfall Aggression.

 
Schlüsselwörter:
Anlage-Umwelt-Debatte, Biokriminologie, Gewaltkriminalität, Strafbedürfnis, Täter-persönlichkeit
 

Thomas Henkel
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