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Bevölkerungsbefragungen
 
Einführung
 
Bei der Bevölkerungsbefragung handelt es sich um ein methodisches Instrument der empirischen Sozialforschung. Diese verfolgt das Ziel der wissenschaftlichen Erfassung, Analyse und Interpretation menschlichen Verhaltens sowie gesellschaftlicher Phänomene und Prozesse. Die Ergebnisse von Bevölkerungsbefragungen stellen häufig die Grundlage für die Entwicklung zielgerichteter Lösungswege für soziale Probleme dar. Bevölkerungsbefragungen können in drei verschiedenen Formen durchgeführt werden:
1. persönliche Befragung / „face-to-face“-Interview
2. telefonische Befragung
3. schriftliche Befragung (per Post oder Internet)
Aus Effizienzgründen hat sich seit einiger Zeit das Telefoninterview als dominierende Befragungsform durchgesetzt, die schriftliche Befragung gewinnt aber neuerdings auch wieder an Bedeutung. Unterschieden wird zwischen quantitativer und qualitativer Befragungen, je nach dem Grad der Strukturierung sowie Standardisierung des Fragebogens
 
Anwendungsbereiche
Die Befragung ist neben der Beobachtung, dem Experiment, der Inhalts- und Dokumentenanalyse die am häufigsten verwendete Methode empirischer Sozialforschung und wird seit Mitte der 1930er Jahre vor allem im Bereich der Markt- und Meinungsforschung (Demoskopie) eingesetzt. Mittlerweile finden Bevölkerungsbefragungen aber auch in zahlreichen anderen wissenschaftlichen Disziplinen (z.B. Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Rechtswissenschaften) Anwendung. Kriminologische Relevanz hat dieses Erhebungsinstrument insbesondere im Zusammenhang mit der Erforschung des Dunkelfeldes von Kriminalität erlangt. Die gezielte Befragung möglichst repräsentativer Bevölkerungsstichproben nach eigenen Opfer- oder Tätererfahrungen soll Aufschluss über das Ausmaß nicht registrierter Taten geben. Opferbefragungen werden als „Crime Survey“, Täterbefragungen als „self reported delinquency“ bezeichnet. Sollen speziell opferbezogene Erkenntnisse gewonnen werden, ist häufig von „Victim Survey“ die Rede.
Seit Etablierung der Kommunalen Kriminalprävention in Deutschland Anfang der 1990er Jahre haben Bevölkerungsbefragungen auch im Rahmen kriminologischer Regionalanalysen (KRA) an Bedeutung gewonnen. Neben der Analyse der objektiven Sicherheitslage zielen diese insbesondere auf die Ermittlung des subjektiven Sicherheitsempfindens der Bürger ab, um schließlich regional maßgeschneiderte Präventionsprogramme konzipieren zu können. Exemplarisch sei auf die ersten Pilotprojekte in mehreren Städten in Baden-Württemberg aus dem Jahr 1994 verwiesen, die den Anstoß zu inzwischen regelmäßig durchgeführten KRA bzw. Bürgerbefragungen in zahlreichen Städten Deutschlands (z.B. Bonn, Bremen, Schwarzwald-Baar-Kreis) gaben. Um die u.a. auf Grundlage der Befragungsergebnisse implementierten Präventionsmaß-nahmen auf ihre Wirksamkeit hin zu untersuchen, kommen Bevölkerungsbefragungen im Rahmen der sog. Evaluationsforschung abermals zum Einsatz.
 
Wissenschaftlichkeit
Um dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit gerecht zu werden, müssen Bevölkerungsbe-fragungen vor allem die wesentlichen Phasen einer empirischen Untersuchung durchlaufen: 1. Formulierung und Präzisierung des Forschungsproblems (Ziele; Hypothesen)
2. Planung und Vorbereitung der Erhebung (Konstruktion des Fragebogens inkl. Verwendung passender Mess- und Skalierungsmethoden / Operationalisierung der Variablen; Festlegung des Forschungsdesigns ? z.B. Quer- o. Längsschnittstudie; Totalerhebung oder Stichprobenziehung; Pretest)
3. Datenerhebung (Durchführung der Befragung; ggf. Methodenkombination)
4. Datenauswertung (Datenübertragung EDV-Systeme, Fehlerkontrolle/-bereinigung, statistische Datenanalyse z.B. mithilfe von Softwareprogrammen wie SPSS)
5. Berichterstattung (Forschungsbericht) und praktische Umsetzung der Ergebnisse
Hierbei sollten die Gütekriterien der Objektivität, Reliabilität (Zuverlässigkeit) und Validität (Gültigkeit) berücksichtigt werden (vgl. Diekmann, 2009, S. 247 ff.).
 
Probleme
Die Ergebnisse von Bevölkerungsbefragungen dürfen – wie die mit anderen Methoden zur Erhebung sozialer Tatbestände erhobenen Daten auch – nicht unreflektiert als „richtig“ oder „wahr“ hingenommen werden. Vielmehr müssen die zahlreichen Fehlerquellen, Stör- und Verzerrfaktoren berücksichtigt werden. Eine generelle Schwierigkeit ergibt sich häufig aus der repräsentativen Abbildung der Bevölkerungsgruppen in der Stichprobe, da insbesondere sehr junge und sehr alte Menschen sowie Personen mit Migrationshintergrund oft nur schwer erreichbar sind. Die Gründe für mangelnde Antwortbereitschaft sind vielfältig und reichen von Verständnisschwierigkeiten über fehlendes Interesse bis hin zu Vorbehalten ggü. Befragungen im Allgemein oder beziehen sich auf die befragende Person bzw. Institution. Liegt die Ausfallquote über 40%, sollte die Untersuchung aufgrund mangelnder Validität (Aussagekraft/Gültigkeit) nicht fortgeführt werden.
Die üblichen Fehlerquellen einer Befragung (z.B. Antworten i.S. sozialer Erwünschtheit, „Meinungslose“, suggestive Frageformulierung, Interviewsituation) können mithilfe der bekannten Techniken (vgl. Diekmann, 2009, S. 446 ff.) zwar teilweise vermieden werden, völlig verzerrungsfreie Resultate sind aber kaum zu erzielen. Besonders vorsichtig muss in diesem Zusammenhang mit den Ergebnissen aus Täterbefragungen umgegangen werden, da die befragten Personen mitunter gar kein Interesse an zutreffenden Aussagen haben. Außerdem spielen Erinnerungsverluste und der sog. Telescoping-Effekt, der eine Verschiebung erlebter Ereignisse in den Befragungszeitraum und somit eine Überhöhung der Täter- bzw. Viktimisierungserfahrungen bewirkt, eine Rolle. Opferbefragungen gelten als etwas zuverlässiger, allerdings ist zu beachten, dass bestimmte Delikte hierdurch nicht erfasst werden können, z.B. weil sie sich nicht gegen Privatpersonen richten oder vom Opfer gar nicht wahrgenommen / verstanden wurden.
Ein weiteres Manko ist die mangelnde Vergleichbarkeit der Befragungsergebnisse, weil unter verschiedenen Bedingungen (Stichprobengröße/-struktur, Zeitraum, kulturabhängige Wahrnehmungstoleranzen und Mitteilungsbereitschaften etc.) und mit verschiedenen Fragestellungen gearbeitet wird. Standardisierte Bevölkerungsbefragungen versuchen diesbezüglich Abhilfe zu schaffen. So wurde z.B. durch die Forschungsgruppe Kommunale Kriminalprävention Baden-Württemberg ein „Standardinventar“ für die Durchführung von Bürgerbefragungen im Rahmen von KRA erarbeitet.
Schließlich kann nicht bestritten werden, dass Bevölkerungsbefragungen einen erheblichen zeitlichen wie finanziellen Aufwand bedeuten und einer regelmäßigen Wiederholung bedürfen, um eine gewisse Aussagekraft zu entfalten. Unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten kann sich eine Studie aber dann auszahlen, wenn auf ihrer Grundlage die tatsächlich wirk-samen Präventionsinstrumente installiert und so andere Kosten (z.B. finanzielle Schäden durch Kriminalität oder unwirksame Präventionsmaßnahmen) vermieden werden.
 
Literatur
- Diekmann, A.: Empirische Sozialforschung – Grundlagen, Methoden, Anwendungen. 2009, Reinbek bei Hamburg.
- Schwind, H.-D.: Kriminologie – Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. 2009. Heidelberg.
- Schlüsselwörter: empirische Sozialforschung, Täterbefragungen, Opferbefragungen, Dunkelfeldaufhellung, Kriminologische Regionalanalyse

Katarina Sattler
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