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Corporate Crime
 
Dieser Begriff aus der US-amerikanischen Kriminalsoziologie steht in der Tradition des von Sutherland mit seiner Studie White Collar Crime begründeten Forschungsfeldes der Wirtschaftskriminalität. Jedoch bezog sich Sutherlands Begriff vom White Collar Offender allgemein auf Personen mit hohen gesellschaftlichen Status und Ansehen und bezog die verschiedensten Formen abweichenden Verhaltens ein, die zum Teil überhaupt keine Straftaten darstellten. Sowohl die unscharf eingegrenzte Personengruppe wie die Unbestimmtheit sowohl ihrer Motive als auch der möglichen Handlungen wurde in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kritisiert. Der Begriff des Corporate Crime ist insoweit enger gefasst, als er Normbrüche beschreibt, die das Management und die Mitarbeiter eines legalen Unternehmens in dessen Interesse begehen. Jedoch sind die Normbrüche, die der Corporate Crime zugerechnet werden, ebenso vielfältig wie bereits bei Sutherland, da sie nicht strafrechtlich relevant sein müssen. Der Fokus auf die Handlungen des Managements und der Mitarbeiter eines legalen Unternehmens, drückt die Überzeugung aus, dass es analytisch bedeutsam ist, Delikte, die ein Individuum zum eigenen Nutzen begeht, von solchen zu trennen, die zum Vorteil eines Unternehmens begangen werden. Damit wird der Blick weniger auf individuellen Wahlhandlungen gelegt, die zu Delinquenz führen gelegt, sondern verstärkt auf die unternehmensinternen Anreizstrukturen, die das Management den Mitarbeitern gibt, ebenso werden die besonderen Möglichkeiten eines korporativen Akteurs untersucht, einer möglichen Strafverfolgung zu entgehen bzw. diese zu behindern. Denn auch im angelsächsischen Raum wird trotz eines Unternehmensstrafrechts davon ausgegangen, dass komplexe Unternehmensstrukturen eine Strafverfolgung erschweren könne. Dies betrifft bereits, die Entdeckung eines Deliktes, da eine inkriminierte Handlung so sehr in das allgemein übliche Geschaftsgebaren eingebunden sein kann, dass die Illegalität verborgen bleibt. Auch wird eine Aufdeckung dadurch erschwert, dass Corporate Crime oftmals keinen direkten individuellen Geschädigten hat – wie bspw. bei Korruptionsdelikten im Zusammenhang mit öffentlichen Bauvorhaben – oder weil die Geschädigten kaum eine Möglichkeit haben, ihre Viktimisierung zu bemerken – wie bspw. im Falle von Preisabsprachen.
Die Perspektive auf einen kollektiven Akteur ist auch dann von Bedeutung, wenn angenommen wird, dass die Handlungen kollektiver Akteure nicht gleich der Summe der individuellen Handlungen seiner Mitglieder sind. So beschrieb bereits Sutherland, dass Individuen in einem Unternehmen ihr kriminelles Verhalten lernen würden (Kriminalitätstheorien), doch spricht für die Betrachtung des Unternehmens als einen kollektiven Akteur ebenfalls, dass – unabhängig von einer Lerntheorie – erwünschtes kriminelles Mitarbeiterverhalten von dem Management eher durch persönliche Vorteile wie Prämien und Karrierechancen provoziert und belohnt als direkt angeordnet wird und sich somit in den Unternehmensstrukturen abbildet. Die explizite Einbeziehung von Strukturen als entscheidende Variablen gegenüber utilitaristischen Erklärungsversuchen wird von einigen Autoren damit begründet, dass die Ansätze, die kriminelles Verhalten mit der individuellen Nutzenmaximierung der Akteure erklären, sowohl für delinquentes wie normtreues Verhalten dasselbe Nutzenargument heranziehen müssen. Damit können die Unterschiede dieser beiden Handlungsalternativen nicht ausreichend erklärt werden.
Neben den Strukturen eines Unternehmen wurde auch dessen finanzielle Situation zur Erklärung devianten Verhaltens herangezogen. Jedoch ließ sich bisher kein eindeutiger Zusammenhang von Unternehmenskriminalität und seiner angespannten ökonomischen Situation belegen. Neben den langen Vorlaufzeiten bis zur Amortisation von Investitionssummen, die Kosten für die Einrichtung eines modernen Industriearbeitsplatzes liegen deutlich im sechsstelligen Bereich, die zu periodisch hohen Ausgaben ohne Einnahmen in gleicher Höhe auch bei florierenden normtreuen Unternehmen führen, kann sowohl für prosperierende als auch für rezessive Phasen angenommen werden, dass die Risikobereitschaft steigt: Während im Boom scheinbar Alles gelingt, wird im Niedergang vielleicht Alles gewagt.
Der Versuch über die ökonomische Situation des kollektiven Akteurs Unternehmen dessen Bereitschaft zu erklären, kriminell zu werden, impliziert, dass Unternehmen sich üblicherweise normtreu verhielten und erst in Ausnahmesituationen zu illegalen Methoden griffen. Eine Außenseiterposition dazu vertritt unter anderem Ruggiero, der sowohl White Collar als auch Corporate Crime als Varianten der Organisierten Kriminalität betrachtet. Denn sowohl delinquente legale Unternehmen wie auch organisierte Kriminelle verfügten oftmals über dasselbe illegale Know-how und betrachteten jeweils staatliche Regulierungen im gleichen Maße als Eingriff in ihre Geschäftstätigkeit. Allgemein wird in der Literatur von der Möglichkeit ausgegangen, dass die Lobbyarbeit großer Unternehmen und ihrer Verbände mögliche regulierende Eingriffe durch Gesetzgebung zumindest minimieren kann und das Strafrecht daher vor allem auf die Straßenkriminalität fokussiert, jedoch abweichendes Verhalten von Unternehmen kaum erfasst. Aus diesem Grund hält die Corporate Crime-Forschung überwiegend an einem weiten Verbrechensbegriff fest, der auch Verstöße gegen andere juristische Normierungen bspw. des Zivilrechts oder sogar allgemein Handlungen mit hohen „sozialen Risiko“ in die Betrachtung einbezieht. Für ein besonderes soziales Risiko der Corporate Crime spricht das moderne Finanzdienstleister und industrielle Großbetriebe große Mengen an finanziellen wie materiellen Ressourcen umsetzen. Veruntreuungen oder Schäden erreichen daher schnell die Millionenhöhe. So wird dem Phoenix Kapitaldienst beispielsweise vorgeworfen, insgesamt 30.000 Anleger um einen dreistelligen Millionenbetrag betrogen zu haben. Grundsätzlich jedoch kann die Schadenssumme des Corporate Crime nicht beziffert werden: So sind die Hellfeldstatistiken der Wirtschaftskriminalität nach dem § 74 GVG abgegrenzt, gleichzeitig ist die mögliche Schadenssumme sowohl durch einen unspezifischen Bezug auf Handlungen, die nicht strafrechtlich relevant sind, als auch durch ein mutmaßlich großes Dunkelfeld sehr spekulativ.
Neben den unscharfen „sozialen Risiken“ sind durch den Bezug auf den Unternehmensvorteil die verschiedensten Straftatbestände für die Corporate Crime-Forschung einschlägig und können die unterschiedlichsten Delikte erfassen: Verstöße gegen das Umweltrecht, das Lebensmittelrecht, gegen Bilanzierungsvorschriften sowie das Arbeitsschutzrecht als auch Untreuedelikte. In einzelnen Fällen können Arbeitsunfälle die Straftatbestände der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung erfüllen; anders als in den USA sind Mordanklagen gegen Arbeitgeber in Deutschland empirisch ohne Bedeutung.
Eine Unterart des Corporate Crime ist das Corporate War Crime, das die Verbindung von Unternehmen mit militärischer Gewalt bezeichnet wie bspw. bei der Ölförderung im Nigerdelta. Auch die Menschenrechtsverletzungen in dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib durch private US-amerikanische Sicherheitsdienste gehören in diese Kategorie. Mit der zunehmenden Beteiligung privater Unternehmen an der Planung und Durchführung von Kriegen, die im logistischen Bereich beginnt und bis zu unmittelbaren militärischen Kampfeinsätzen durch private Söldnerunternehmen reicht, ist von einer wachsender Beteiligung von Unternehmen an Kriegsverbrechen auszugehen. Den historisch bekanntesten Fall einer juristischen Ahndung von Coroprate War Crime bieten die Nürnberger Prozesse mit dem Verfahren gegen die IG Farben aufgrund ihrer Verwicklung in die beispielslosen Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

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Ingo Techmeier
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