Diversion Der Begriff „Diversion“, verwendet im Sinne von „Ablenkung“, „Umleitung“ oder „Wegführung“ vom System formeller Sozialkontrolle, wurde in den 1960er Jahren in den USA in die kriminalpolitische Diskussion eingeführt. Bislang ist es nicht gelungen, eine einheitliche, wissenschaftlich präzise Definition von Diversion zu erzielen, was vor allem am unklaren theoretischen Konzept der Diversion liegt. Diversion als kriminalpolitische Strategie zur Vermeidung (und Verringerung) justitieller Verfahren und Verurteilungen entstand als Resultat einer extrem zunehmenden Fallbelastung der
Jugendgerichte und Jugendgefängnisse in den USA. Die Überlastung strafjustitieller Kapazitäten wurde vor allem durch die weitreichenden Eingriffsbefugnisse der amerikanischen Jugendstrafjustiz begünstigt, was insbesondere dazu führte, dass viele Jugendliche und auch teilweise Kinder ab 7 Jahren als „Status Offenders“ strafrechtlich verfolgt wurden. Die sog. Statusdelikte (engl.: status offence) sind Rechtsbrüche Jugendlicher, die in der Bundesrepublik Deutschland als Verhaltensauffälligkeiten, aber nicht als Straftaten gelten würden, wie beispielsweise Schulverweigerung, Weglaufen, Rauchen oder
Alkoholgenuss in der Öffentlichkeit. In den USA hingegen gibt es diese Trennung nicht, da das amerikanische
Jugendrecht ein eingleisiges
Jugendrechtssystem ist, innerhalb dessen der Jugendrichter als Zivilrichter über alle Fälle von Verfehlungen Jugendlicher in seinem Zuständigkeitsbereich entscheidet, in denen erzieherische oder vormundschaftsrichterliche Maßnahmen erforderlich sind. Hierbei handelt es sich zwar immer um zivilrechtliche Sanktionen, doch unterfällt auch die Verfolgung solcher Handlungen und deren Aufklärung dem Aufgabenbereich der Polizei. In der Amtszeit des us-amerikanischen Präsidenten Johnson wurde dann auch die Kriminalitätsbekämpfung zu einer der wichtigsten Angelegenheiten der Gesellschaftspolitik erklärt. Allerdings bestand das vornehmliche Ziel nicht in der Bekämpfung sozialer Ungleichheiten und Missstände als Ursache steigender Kriminalität, sondern vielmehr in einer Effektivitäts- und
Effizienzsteigerung der Kontrollstrategien. In dem 1967 veröffentlichten Schlussbericht der von Johnson eingesetzten „Commission on Law Enforcement and Administration of Justice“ wurden die wesentlichen Grundlagen der Diversionsbewegung formuliert; diese Kommission setzte sich insbesondere dafür ein, bei Straftaten Jugendlicher den Einsatz des justitiellen Sanktionssystems möglichst zurückzudrängen und statt dessen weniger belastende Maßnahmen zu nutzen bzw. neu zu entwickeln. Mit den Diversionsstrategien sollten – zumindest aus us-amerikanischer Sicht – unterschiedliche Problemfelder gelöst werden:
- Wegen der Gefahr schädlicher Folgewirkungen sollten intensive Kontakte namentlich junger Beschuldigter mit der Strafjustiz möglichst vermieden werden. Zudem ist auf eine rasche Reaktion nach der Tat hinzuwirken, um den Zusammenhang mit der Tat nicht zu verlieren.
- Kritiker der professional-institutionalisierten
Sozialarbeit erhofften sich eher einen Ausgleich sozialer Benachteiligung und effizientere Problemlösungshilfen von freien Trägern und privaten Initiativen.
- Kapazitätsprobleme der Justiz sollten durch vereinfachte und schnelle Verfahren gelöst werden.
Die Diversion verfolgt demnach verschiedene Zielsetzungen: Vermeidung von
Stigmatisierung der Betroffenen durch Abbau formeller Verfahren, schnellere Reaktionen, damit der Bezug zwischen Tat und Reaktion erhalten bleibt, flexiblere Problemlösungshilfen für die Betroffenen, Abbau überschießender formeller Sozialkontrolle sowie Entlastung der Justiz.
Die kriminologisch-theoretische Legitimation von Diversion verpflichtet sich nicht ausschließlich einer Kriminalitätstheorie, obgleich ein wesentlicher Beitrag auf dem Etikettierungsansatz (labeling approach) beruht. Der genuin soziologische Zugriff dieses Ansatzes besteht darin, dass das Phänomen der – kriminellen – Abweichung selbst erst als Ergebnis der Zuschreibung interaktiv entwickelter Interpretationsschemata von
Stigmatisierung/Etikettierung verstanden wird.
Anfang der 1980er Jahre trat der Diversionsbegriff seine „internationale Karriere“ an; in der BRD befasste sich 1980 auf dem 18. Deutschen Jugendgerichtstag in Göttingen erstmals ein Arbeitskreis mit dem Thema „Diversion: Wege zur Vermeidung des förmlichen Verfahrens“. Diversion wurde zu der wohl bedeutsamsten kriminalpolitischen Reformbestrebung in den 1980er Jahren. Aufgrund unterschiedlicher Handlungsspielräume in den jeweiligen Kriminaljustizsystemen differieren jedoch die Diversionsprojekte in den USA und der BRD erheblich. Unter den Rahmenbedingungen der deutschen Rechtsordnung, die u.a. durch das Prinzip der Unschuldsvermutung, durch den Schuldgrundsatz sowie durch das Legalitätsprinzip gekennzeichnet ist, sind nur solche Diversionsstrategien möglich, die die prozessualen Nichtverfolgungsermächtigungen zur Verfahrenseinstellung im staatsanwaltschaftlichen Vorverfahren, im gerichtlichen Zwischen- oder im Hauptverfahren nutzen. Auf den Ebenen der formellen Sozialkontrolle bestehen Diversionsmöglichkeiten durch die
Staatsanwaltschaft und das Gericht vornehmlich im Bereich der Kriminalität von Jugendlichen und von Heranwachsenden, auf die
Jugendstrafrecht angewendet wird (§§ 45, 47, 109 Abs. 2 JGG, §§ 153 ff. StPO), ferner bei Privatklagedelikten Jugendlicher (Umkehrschluss aus § 80 Abs. 1 JGG), bei Bagatellkriminalität von Erwachsenen und von als Erwachsene behandelten Heranwachsenden (§§ 153 ff., 374 ff. StPO, § 109 Abs. 2 JGG) und – unabhängig von Altersstufen – bei Drogenkonsumenten (§§ 37, 38 BtMG). Bei der deutschen Variante der Diversion handelt es sich somit (nach einer Definition von Löschnig-Gspandl) um die staatliche Erledigung strafbarer Handlungen unter einer gewissen Erheblichkeitsschwelle der Tat und unter der Voraussetzung der bloß geringen Gefährlichkeit des (geständnisbereiten) Täters im Wege der Beendigung des Verfahrens durch Verfolgungsverzicht oder Einstellung aufgrund von Opportunitätserwägungen, sei es mit (intervenierende
Einstellungen) oder ohne Verknüpfung mit informellen Begleitmaßnahmen (nicht intervenierende
Einstellungen), wodurch ein (weiteres) förmliches
Strafverfahren vermieden wird. Die sog. „police diversion“ wird durch die geltende deutsche Rechtslage ausgeschlossen; auf polizeilicher Ebene herrscht das Legalitätsprinzip.
Den jugendstrafverfahrensrechtlichen Einstellungsvorschriften (§§ 45, 47 JGG) lag und liegt primär das Ziel zugrunde, die stigmatisierende Wirkung eines Prozesses, soziale Diskriminierungen sowie eine zur Erreichung des jugendstrafrechtlichen Erziehungsziels – Rückfallvermeidung – nicht erforderliche Belastung der jungen Menschen zu vermeiden. Der Entlastung der Strafjustiz und Verfahrensbeschleunigung durch Abbau unnötiger Sozialkontrolle sowie Verzicht auf die Verfolgung von Bagatellfällen (den verfahrensökonomischen Aspekten), soll demgegenüber Nachrang zukommen. Ähnliche Zielstellungen gelten mittlerweile auch für das allgemeine Strafrecht. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass spezialpräventiv häufig bereits der Umstand genügt, dass gegen den Beschuldigten wegen einer Straftat ermittelt wurde.
Die Opportunitätsvorschriften wurden und werden zunehmend angewandt. Im Jahr 2005 erfolgte eine Einstellung aus Opportunitätsgründen bei mehr als jedem zweiten, hinreichend tatverdächtigen Beschuldigten, wobei die Diversionsrate im
Jugendstrafrecht mit ca. 68 % deutlich höher liegt als im allgemeinen Strafrecht mit ca. 51 %. Träger dieser Diversionsentscheidungen ist vor allem die
Staatsanwaltschaft, durch die Gerichte wurden 2006 lediglich 14,3 % der Einstellungsentscheidungen getroffen.
Trotz der Vorteile (Entstigmatisierung, Entdramatisierung, Beschleunigung), welche die Diversion bietet, hat die Diversionsbewegung in den letzten Jahren eine wachsende Kritik erfahren. So wird der Einwand erhoben, dass die Grundprinzipien des
Strafverfahrens (etwa das Legalitäts- und Akkusationsprinzip, Öffentlichkeit der Verhandlung) nicht gewährleistet seien; durch die Diversionsstrategien werde die Kriminalitätskontrolle unerlaubt vom Richter, dem die Sanktionskompetenz zusteht, auf die
Staatsanwaltschaft übertragen. Auch dürfen Ankläger und Urteilender nicht in einer Person vereinigt sein. Weiterhin würden bei Anwendung der Diversionsvorschriften die prozessualen Rechte des Beschuldigten und die Garantien des
Strafverfahrens verkürzt, da beispielsweise bei einer Einstellung des Verfahrens nach §§ 45 Abs. 3, 47 Abs. 1 Nr. 3 JGG auf den Jugendlichen ein Geständnisdruck ausgeübt werde, da er nur so auf die Möglichkeit einer Einstellung hoffen kann. Dies stünde im Widerspruch zur Unschuldsvermutung. Schließlich habe sich im Zuge der verstärkten Anwendung der Diversion die staatliche Sozialkontrolle nicht vermindert, sondern ausgeweitet (sog. „net-widening-effect“), so dass die Betroffenen durch die Diversionsprogramme stärker als durch eine förmliche Aburteilung stigmatisiert werden würden.
Literatur:
- Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1992;
- Heinz, Wolfgang: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 – 2006, Stand: Berichtsjahr 2006, Version: 1/2008, abrufbar unter: http://www.uni-konstanz.de/rtf/kis/Sanktionierungspraxis-in-Deutschland-Stand-2006.pdf;
- Micheel, Heinz-Günter: Diversion als Ausweitung sozialer Kontrolle? Eine empirische Studie; mit einer Einführung in diskrete Ergebnis-Modelle, Berlin 1994
Dominique Best