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Gesetzgebung
 
Gesetzgebung, geltendes Recht, Gesetzesanwendung und -wirkung stehen in einem sich gegenseitig beeinflussenden Zusammenhang. Dies hat die Kriminologie lange Zeit verkannt. Erst mit dem zunehmenden Einfluß des labeling approach (*Kriminalitätstheorien) haben auch Fragen der Gesetzgebung Eingang in die Kriminologie gefunden.
Aus der Sicht der "neuen Kriminologie" ist Kriminalität ohne die im Gesetzgebungsverfahren produzierte Norm undenkbar, denn erst Gesetze erzeugen Tatsachen und schreiben Verantwortung zu. Zur Vervollständigung des kriminologischen Wissens ist es deshalb erforderlich, sich mit dem Prozeß, in dem Normen gebildet und weiterentwickelt werden (Normgenese), zu befassen.
Die an der Normgenese interessierten Kriminologen gehen dabei von einem bestimmten Gesellschaftsmodell aus. Sie lehnen das Konsensmodell ab, wonach eine entstandene Strafrechtsnorm Ausdruck des gemeinsamen Willens und der gemeinsamen Überzeugung eines Volkes ist (wichtiger Vertreter: Durkheim) und favorisieren ein Konfliktmodell. Danach sind Strafgesetze nicht auf allgemeine Übereinstimmung zurückzuführen, da es keinen Wertkonsens in der Gesellschaft gibt, sondern auf den Willen bestimmter Gruppen, die sich anderen gegenüber durchsetzen konnten.
Da sich im Strafrecht sowohl partikulare als auch allgemeine Interessen nachweisen lassen, verbietet sich eine einseitige Betonung des Konsensmodells. Aber auch das Konfliktmodell genügt dem Forschung-sinteresse nicht völlig. Voraussetzung für einen Konflikt sind mindestens zwei unterschiedliche Positionen, die in den politischen Prozeß der Gesetzgebung einfließen können. So haben Prostituierte, Drogenabhängige, Gastarbeiter, Obdachlose in kriminologisch bedeutsamen Politikfeldern keine Verhandlungsmacht.
Sie sind nicht organisations- und konfliktfähig. Hier müssen sogenannte "Advokaten" einspringen, um diese Belange in den politischen Entscheidungsprozeß einzubringen. Diese handeln jedoch nicht immer uneigennützig. Aber auch soweit sich Strafrechtsnormen gegen potente Gruppen richten, ist eine Konfliktfähigkeit nur in Ausnahmefällen erkennbar.
Nur selten finden z. B. im Arbeitsschutz- und Umweltschutzbereich offene Konfrontationen statt. Möglicherweise erfolgte bereits im Vorfeld der Strafrechtsnormentstehung eine Stigmatisierung der potentiell Betroffenen, die ihre Verhandlungsposition entscheidend schwächt. Teilweise wird vermutet, dass es heute im allgemeinen nicht die großen Interessenverbände sind, die sich an der Diskussion über Strafrechtsprobleme beteiligen, sondern diejenigen, die für die Durchführung der Gesetze verantwortlich sind, also die Institutionen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht. Ausnahmen davon bilden Strafrechtsnormen mit symbolischer Bedeutung (Abtreibung, Terrorismus).
Soweit diese These zutrifft, sind die Normgenese und die Implementation (Anwendung und Durchsetzung von Normen) untrennbar miteinander verbunden. Denn für die Interessen des Durchführungsstabes könnte es genügen, wenn Strafrechtsnormen so generalklauselartig sind, dass die Kriminalisierung weitgehend in den Händen der Bürokratie liegt. Jedoch sind auch hierzu nachvollziehbare Zweifel deutlich geworden. Erste beispielgebende Analysen des Strafrechts standen in einer sozialhistorischen Perspektive. J. Hall (1935) machte den Zusammenhang zwischen dem aufblühenden Handel Englands mit dem Kontinent und der Entstehung der Strafrechtsnorm der Unterschlagung deutlich.
W. J. Chambliss (1964) sah die Ursache für die unterschiedliche Behandlung von Landstreichern in den ökonomischen Konjunkturzyklen. Rusche/Kirchheimer (1939) versuchten die Entwicklung des Strafvollzuges auf ökonomische Erfordernisse zurückzuführen. H.S. Becker (1963) befaßte sich beispielsweise mit der Drogengesetzgebung in den USA (Marihuana-Steuergesetz, 1937) und machte hierfür die Behörden als "moralische Unternehmer" verantwortlich.
Aktuelle Untersuchungen zur Normgenese befassen sich mit der Erforschung der strafrechtlichen Veränderung der Diebstahlsnormen zwischen 1961 - 1975 (Haferkamp, 1980), der Datenschutzgebung, dem Betäubungsmittelgesetz (Scheerer) und der Umweltgesetzgebung.

Literatur:
- Haferkamp, H.: Herrschaft und Strafrecht. Opladen 1980.
- Hassemer, W.; Steinert, H.; Treiber, H.: Soziale Reaktion auf Abweichung und Kriminalisierung durch den Gesetzgeber. In: Hassemer, W. und Luederssen, K. (Hrsg.): Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Band III Strafrecht. München 1978, 1-65.
- Scheerer, S.: Strafgesetzgebung. In: Sieverts, R. und Schneider, H.J. (Hrsg.): Handwörterbuch der Kriminologie, Berlin, New York, 1979, 2. Auflage, Band 4 Ergänzungsband, 393-404.

Entnommen mit freundlicher Genehmigung des Kriminalistik-Verlages Heidelberg aus der gedruckten Version des Kriminologie-Lexikons, Stand der Bearbeitung: 1991

Frank Hofmann
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