Gewalt in der Familie / Gewalt in der Ehe Die "Gewalt im häuslichen Bereich" (früher: Gewalt in der
Familie) war in Deutschland bis Mitte der 1980er Jahre kein Thema, das in der Kriminologie, der
Kriminalpolitik oder der Polizeiwissenschaft ausführlicher behandelt wurde. Dabei sind die sozialen, psychologischen, aber auch finanziellen Auswirkungen dieses Phänomens erheblich. Gewalt im häuslichen Bereich wurde in Deutschland bis in die 1990er Jahre kaum sanktioniert und als privates Problem angesehen. Die betroffenen Frauen und ihre Kinder mussten und müssen teilweise noch heute in Frauenhäusern Schutz suchen und die Kosten hierfür oftmals auch noch selbst bestreiten. Sie müssen ihren gewohnten Lebensraum verlassen, die Kinder müssen
Schule oder Kindergarten wechseln und häufig genug verlieren die Frauen, die vor ihren gewalttätigen Partnern flüchten, ihre Arbeit oder die finanzielle Unterstützung durch diesen Partner.
Die Einsicht, dass es unbedingt notwendig sei konsequent gegen häusliche Gewalt vorzugehen, setzte sich Mitte bis Ende der 1970er Jahre zuerst in den USA durch. Dabei trat die verbindliche Verpflichtung zum polizeilichen Einschreiten bei Fällen von häuslicher Gewalt zunehmend in den Vordergrund. Jahrelang wurde seitens der Polizei nicht oder nicht richtig eingegriffen. Man sah es wie hier in Deutschland lange als eine Privatsache an, mit der die Polizei nichts zu tun haben wollte. Eine Änderung des Interventionsverhaltens der Polizei in den USA ist neben der generellen Veränderung der Einstellung gegenüber
Familiengewalt vor allem auf die sehr hohen Schadensersatzsummen zurückzuführen, die die Behörden in vielen Fällen zu zahlen hatten. So musste zum Beispiel die Stadt Torrington in einem Fall 2,3 Millionen Dollar bezahlen, weil Beamte nicht eingriffen als eine Frau von ihrem Ehemann brutal geschlagen wurde, obwohl sie bereits eine gerichtliche Verfügung zu ihrem Schutz beantragt hatte. Gründe für erfolgreiche Klagen waren unter anderem keine Hilfe bei erkennbaren Gefahren für das
Opfer, keine Intervention (Festnahme bzw. Strafverfolgung) trotz vorliegender Straftaten, falsche Verhaltenshinweise an
Opfer durch Notrufzentralen, keine Hinweise an
Opfer über Entlassungsdaten der Täter, unzureichende Aus- und Fortbildung oder Gefahrenverursachung durch die Polizei (z.B.: Kontakt zwischen Täter und
Opfer wird durch die Polizei "hergestellt").
Ende der 1990er Jahre haben Feltes und Kottmann erstmals das "San Diego Domestic Violence Program" mit seinem "pro-arrest" Ansatz beschrieben (Feltes/Kottmann 1999). Nach der Gründung des Dezernats zur Bekämpfung häuslicher Gewalt ging im Stadtgebiet San Diego die Zahl der Tötungsdelikte im Zusammenhang mit familiärer Gewalt um über 50 % zurück, gleichzeitig stiegen die Meldungen häuslicher Gewalt an. Diese Entwicklungen aufnehmend forderten die Autoren, dass auch in Deutschland die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten konsequenter ausgenutzt werden sollten. Nachbesserungen waren denkbar durch schnellere und bessere Schutzanordnungen, die bei ihrer Verletzung ähnlich wie zum Beispiel in Kalifornien eine sofortige strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen würden. Als Vorbild bot sich Österreich an, wo seit dem 1997 eingeführten Gewaltschutzgesetz der Täter der Wohnung verwiesen werden kann. Eine lokale "Datenbank häusliche Gewalt", so der Vorschlag, wäre im Rahmen des ersten Zugriffs durch die Schutzpolizei hilfreich, um schon vor ihrem dem Eintreffen am Tatort Informationen über vorangegangene Taten oder Vorkommnisse zu haben und auf diese Weise gezielter einschreiten zu können. Wünschenswert wäre und ist nach wie vor eine zentrale Bearbeitung, vor allem um mit Täter und
Opfer in Kontakt zu kommen. Eine Einbeziehung von betroffenen
Opfern und Tätern, aber auch von sozialen Einrichtungen mit spezifischen Hilfsangeboten kann helfen, bestehende
Vorurteile abzubauen. Darüber hinaus sollte in der Öffentlichkeit ein größeres Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass häusliche Gewalt nicht toleriert und dass dagegen konsequent vorgegangen werde, unter anderem durch zeitnahe Sanktionen. Während die meisten dieser Forderungen inzwischen umgesetzt wurden, tauchten neue Schwierigkeiten auf, u.a. im Zusammenhang mit der Umsetzung von Schutzanordnungen.
Bereits Ende der 1980er Jahre hatte eine von Steffen und Polz durchgeführte Auswertung gezeigt, dass sich im Vergleichszeitraum 1974 bis 1989 die zunehmende öffentliche Diskussion und Problematisierung der Anwendung von Gewalt insbesondere auch innerhalb der
Familie nicht auf die Häufigkeit ausgewirkt hatte, mit der diese Straftaten bei der (bayerischen) Polizei angezeigt wurden (Steffen/Polz 1991). Mitte der 1990er Jahre wurde dann von Feltes in einer empirischen Studie (Feltes 1996) festgestellt, dass in Stuttgart drei von vier Funkstreifenwagen-Einsätzen i.V.m. Körperverletzungen in "die
Familie" (unter "
Familie" sind auch Partnerschaften und Lebensgemeinschaften zu verstehen, die familienähnliche Struktur aufweisen) gingen, d.h. das Ziel dieser Einsätze waren Wohnungen, Appartements oder Eigenheime, in die die Polizei zur "Streitschlichtung" in Verbindung mit einer Körperverletzung gerufen wurden. Die
Familie war und ist damit der Ort in Deutschland, an dem sich die meiste Gewalt ereignet. Zudem ist auch heute noch die Dunkelziffer der Taten im häuslichen Bereich sehr groß, und trotz des zunehmenden öffentlichen Interesses werden diese Delikte immer noch verharmlost oder tabuisiert. Gewalt in der
Familie ist die am häufigsten auftretende Form interpersoneller Gewalt in der Gesellschaft. Sie findet häufiger statt als alle anderen Formen von Gewalt gegen Personen zusammen.
Weitere Untersuchungen zur konkreten polizeilichen Intervention und zum polizeilichen Umgang mit dem
Opfer wurden zu diesem Zeitpunkt in Deutschland noch nicht durchgeführt. Wiederum im Gegensatz zu den USA, wo bereits in den 1970er Jahren verschiedene empirische Untersuchungen hierzu durchgeführt wurden. Aber auch dort galt bis 1967, dass Gewalt in der
Familie kein Polizei-Problem sei. 1972 forderte eine Studie, dass Polizeibeamte für solche Interventionen psychologisch geschult werden sollten. Obwohl diese Studie empirisch schwach abgesichert war, wurden in den folgenden Jahren Millionen von US-Dollar für entsprechende Fortbildungen ausgegeben.
1989 zeigten dann Sherman und Cohen im "Minneapolis Domestic Violence Experiment", dass die Rückfallrate um 50 % höher ist, wenn keine Verhaftung des Aggressors erfolgt. Wenig später setzte sich Sherman insbesondere mit der Frage auseinander, ob die Verhaftung (und ggf. welche Form; ob kurzfristiges Aus-dem-Verkehr-Ziehen oder langfristiges Einsperren) des (meist männlichen) Täters bei
Familienstreitigkeiten diese in Zukunft verhindert, oder ob dadurch nicht mittelfristig eine Verschärfung der Situation eintrete. Die dazu in den USA durchgeführten und vom National Institute of Justice unterstützten insgesamt sieben Experimente zeigten, dass Festnahmen die Gewalttätigkeiten in der
Familie dort steigerten, wo sie Personen betreffen, die nichts zu verlieren hatten. Demnach konnten sie kurzfristig abschrecken, aber mittel- bis langfristig zur Eskalation der häuslichen Situation in Konstellationen führen, wo ein größerer Anteil von schwarzen arbeitslosen Tatverdächtigen vorlag. Festnahmen hatten dort einen gewissen abschreckenden Effekt, wo größere Anteile von weißen Tatverdächtigen vorlagen. Sherman zeigte auch, dass ein kleiner Teil gewalttätiger Paare für die Mehrzahl der Einsätze bei
Familienstreitigkeiten verantwortlich war. Diese Studie, durchgeführt auf hohem qualitativem Niveau als experimentelles Design, führte zu einer fast schon als Paradigmenwechsel zu bezeichnenden Veränderung in den USA. Während man bis dahin (auch vor dem Hintergrund des "Nothing works" davon ausging, dass es keine oder fast keine staatlichen Einflussmöglichkeiten in diesem Bereich gebe, sah man sich nun dazu gezwungen, entsprechende Gesetze zu erlassen, die die Festnahme und Arrestierung des Täters (oder seltener der Täterin) vorsahen. Das Ergebnis waren die sog. "mandatory arrest laws", die bis Mitte der 1990er Jahre in fast allen Staaten der USA eingeführt wurden und nach denen die Polizei verpflichtet war, bei vorliegenden entsprechenden Indizien (hierzu genügte ein "blauer Fleck" am Unterarm des
Opfers) unmittelbar und sofort Verhaftungen vorzunehmen, und zwar ohne Rücksicht auf etwaige negative Auswirkungen für den Täter (wie Arbeitsplatzverlust oder soziale Ächtung).
Als dann 1995 das SARP (Spouse Assault Replication Program) mit fünf Studien die Ergebnisse von Sherman u.a. (Minneapolis) nicht bestätigen konnte und 1998 die National Academy of Sciences zum Ergebnis kam, dass Verhaftungen nicht den Rückfall verhindern, führte dies erneut zu einem Umdenken. 2002 zeigten dann Davis und Maxwell sogar, dass mehr Verhaftungen zu höheren Rückfallraten und höherer
Viktimisierung führen. Auch die Langzeitstudie (1995-2005) von Klein und Tobin (2008) kommt zu dem Ergebnis, dass Täter häuslicher Gewalt durch Verhaftung nicht vor einem Rückfall abgehalten werden.
Beeinflusst durch diese Entwicklungen auf internationaler Ebene trat am 1. Januar 2002 das deutsche Gewaltschutzgesetz (GewSchG) in Kraft. In der darauf folgenden polizeilichen Implementierungsphase entwickelten die Innenministerien der Länder Rahmenvorgaben und Richtlinien zur polizeilichen Intervention gegen häusliche Gewalt, deren Stärke in der koordinierten Intervention sowie in der Beschaffenheit und Uniformität der Botschaft liegt: Physisch missbrauchendes Verhalten verstößt gegen das Gesetz, egal in welchem Verhältnis Täter und
Opfer stehen.
Wie viele Länder startete Deutschland in den 1990er Jahren die ersten Initiativen. Neu an diesen Netzwerken war die verstärkte Repräsentanz der Polizei neben Frauenhäusern und Hilfeeinrichtungen. Innovativ an dieser Entwicklung war, dass sich Akteure aus den unterschiedlichsten Institutionen und mit verschiedenem organisatorisch-kulturellem Hintergrund zusammensetzten, um für ein gemeinsames Ziel zu arbeiten. Dafür wurde für die Polizei als staatliche Strafverfolgungsbehörde - einhergehend mit dem sozialen Wandel - ein rechtlicher Wandel notwendig, um Handlungssicherheit zu schaffen. In diesem Rahmen entwickelte die deutsche Polizei neue Strukturen und Organisationsformen, welche eine bessere Reaktion sowie eine verbesserte Zusammenarbeit mit privaten Akteuren (der Intervention gegen häusliche Gewalt) ermöglichen sollten.
Ende 1999 veröffentlichte die deutsche Regierung einen nationalen Aktionsplan - ein koordiniertes Konzept von Aktivitäten und Maßnahmen gegen Beziehungsgewalt, welches die gesellschaftliche Verantwortung für den Kampf gegen häusliche Gewalt mit Hilfe eines konkreten Interventions- und Präventionskonzeptes aufnahm. 2002 wurde das Gewaltschutzgesetz (GewSchG) verabschiedet. Das deutsche Gewaltschutzgesetz ist Teil des "Gesetzes zur Verbesserung des zivilrechtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung". Ziel ist es, Schutzinteressen ernst zu nehmen und nach dem Motto "Der Schläger geht, das
Opfer bleibt" zu verfahren. Dazu gibt es eine klare rechtliche Fundierung der zivilrechtlichen Schutzmaßnahmen einschließlich des Kontaktverbots (§ 1 GewSchG) und des Rechts des
Opfers, in der Wohnung zu bleiben (§ 2 GewSchG) sowie der strafrechtlichen Implikationen für den Täter, wenn dieser die Schutzmaßnahmen ignoriert (§ 4 GewSchG). Das Gesetz will den Täter bestrafen und das
Opfer schützen und legt dabei die Verantwortung der involvierten Parteien fest.
Mit der veränderten Rolle der Polizei in der Intervention gegen häusliche Gewalt nach Einführung des Gewaltschutzgesetzes hat sich Ziegleder (2004) ausführlich beschäftigt.
Literatur
- Feltes, T. (1996): The Position of the Police between Calls for Help in Crisis and Criminal Prosecution in the Conflict Field of Family Violence. In: D. Frehsee, W. Horn, K.-D. Bussmann (Eds.), Family Violence against Children, Berlin, New York 1996, 185-204.
- Feltes, T. & H. Kottmann (1999): Das San-Diego-Domestic-Violence-Program. In:
Kriminalistik 11, 706-711
- Grieger, K., B. Kavemann & H. Rabe (2005): Täterorientierter
Opferschutz durch Platzverweis - erste Erfahrungen aus Deutschland. In: H. Kury & J. Obergfell-Fuchs (Eds.): Gewalt in der
Familie: Für und wider den Platzverweis. Lambertus, Freiburg.
- Klein, A. R. & T. Tobin (2008): A longitudinal study of arrested batterers, 1995-2005: Career Criminals. In: Violence Against Women, Nr. 14/2, 136-157.
- Shermann, L. W. (1992): Policing Domestic Violence. Experiments and Dilemmas. New York.
- Sherman, L. W. & E. G. Cohen (1989): The impact of research on legal policy: The Minneapolis domestic violence experiments. Law & Society Review 23, 117- 144.
- Steffen, W. (2005): Gesetze bestimmen die Taktik: Von der Reaktion auf
Familienstreitigkeiten zur Umsetzung des Gewaltschutzgesetzes. Veränderungen im polizeilichen Umgang mit häuslicher Gewalt - zugleich ein Beispiel für die Praxisrelevanz kriminologischer Forschung. In: H. Kury & J. - Obergfell-Fuchs (Eds.): Gewalt in der
Familie: Für und wider den Platzverweis. Lambertus, Freiburg, 17-36.
- Steffen, W. & S. Polz (1991):
Familienstreitigkeiten und Polizei. Bayerisches Landeskriminalamt, München.
- Ziegleder, Diana (2004, V e r t e i d i g u n g 2005): Domestic Violence - An Analysis of the Social Construction of the "Protection against Violence Act" and its Implementation through the Police (http://www.lrz-muenchen.de/~wlm/Sektion_Rsoz_Studprei3.htm).
Diana Ziegleder Thomas Feltes