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Jugendkriminalität
 
In einem engeren (strafrechtlichen) Sinne ist unter Jugendkriminalität jedes strafbare Verhalten Strafmündiger zu verstehen, die dem Jugendstrafrecht unterstehen. Gemäß § 1 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz sind dies diejenigen, die bei Begehung der Tat 14, aber noch keine 18 Jahre alt sind. Unter den Voraussetzungen der §§ 1 Abs. 2, 105 JGG wird auch auf Personen bis 21 Jahren das Jugendstrafrecht angewandt (Jugendstrafrecht). Der kriminologisch - soziologische Begriff der Jugendkriminalität ist hingegen weiter gefasst. In Anlehnung an den angelsächsischen Begriff "juvenile delinquency" ist unter "Jugenddelinquenz" Mehreres zu verstehen: In personeller Hinsicht meint man damit diejenigen Personen, die in einer Zwischenphase zwischen Kind- und Erwachsenheit stehen und sich in ihrem Sozialisationsprozess befinden. Diese Phase kann bis weit in das dritte Lebensjahrzehnt hinein reichen. Gegenständlich werden vom Begriff der "Jugenddelinquenz" nicht nur Verstöße gegen materielles Strafrecht, sondern auch sonstige abweichende Verhaltensweisen erfasst, die symptomatisch für dissoziale Verhaltensweisen sein können, etwa Schuleschwänzen, Bandenzugehörigkeit oder Alkoholmissbrauch. Schließlich soll durch die Verwendung des Begriffes "Delinquenz" eine Abgrenzung von strafrechtlichen Termini ermöglicht werden, denn diese Begriffe orientieren sich primär an den Vorstellungen der Erwachsenenwelt. Den motivationalen und sonstigen Besonderheiten des Verhaltens junger Menschen werden sie nicht gerecht. Endlich sollen stigmatisierende Wirkungen, wie sie die Verwendung von Begriffen wie "Schuld", "Straftat", "Verbrechen" oder "Kriminalität" ausgehen, vermieden werden.
 
Nahezu Jede und Jeder begeht in ihrer bzw. seiner Jugend mindestens ein Delikt. Zumindest eine jugendliche Bagatellkriminalität, z.B. "Schwarzfahren" ("Erschleichen von Leistungen", § 265a StGB) oder Diebstähle, ist somit ein allgegenwärtiges (ubiquitäres) Phänomen. Ganz überwiegend handelt es sich bei Jugendkriminalität aber nicht um schwere Kriminalität, der durch sie verursachte ökonomische Schaden liegt deutlich unter dem etwa durch Wirtschaftsdelikte verursachten. Auch überschreiten die Taten häufiger das Versuchsstadium nicht, eine dem Opfer angekündigte Übelszufügung wird oft nicht realisiert. Die Delinquenz der meisten Jugendlichen hat einen episodenhaften Charakter. Mit Erreichen des Erwachsenenalters und Abschluss des Sozialisationsprozesses kommt die Deliktsbegehung zu einem Ende.
 
Die Ursachen von Jugendkriminalität sind vielfältig (vgl. auch Kriminalitätstheorien). Teilweise resultiert Jugenddelinquenz aber auch aus der spezifischen Entwicklungssituation Jugendlicher. Sie mag dann Ausdruck eines aus Abenteuerlust resultierenden Spielverhaltens oder pubertärer Aggressivität sein. Ebenso ist delinquentes Verhalten häufig auch Ausdruck von Ausgelassenheit oder Übermut. Bewusst oder unbewusst wird oft das eigene Prestige in der Freundesgruppe gemessen und deren Anerkennung erkämpft.
 
Jugendkriminalität ist ganz überwiegend Bagatellkriminalität. So registrierte die Polizei in den letzten Jahren am häufigsten Jugendliche wegen des Verdachts des einfachen Diebstahls (§ 242 StGB). Schon seltener wurden Jugendliche eines qualifizierten Falles des Diebstahls (§§ 243, 244 StGB) oder Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verdächtigt. Noch seltener, aber doch noch vergleichsweise oft, wurde auch wegen des Verdachts der Sachbeschädigung (§ 303 f. StGB) oder des Betruges (§ 263 ff.StGB) ermittelt. Deutlich weniger Jugendliche wurden aber wegen einfacher (§ 223 StGB) oder qualifizierter Körperverletzung (§§ 224, 225 StGB) erfasst. Noch seltener erfolgte eine Registrierung wegen eines Raubes (§ 249 StGB). Der ganz überwiegender Anteil der Tatverdächtigen ist männlich. Dies gilt besonders für Gewaltdelikte, bei Diebstahls- oder Betrugsdelikten liegt der Anteil von Frauen hingegen etwas höher.
 
Nicht alle Verdächtigen stehen anschließend auch vor Gericht. So wurde beispielsweise in den 1990er Jahren das Ermittlungsverfahren bei einfacher Körperverletzung gegen etwa 60% der Tatverdächtigen eingestellt, bei einfachem Diebstahl lag diese Quote bei über 40%. Kam es letztendlich zu einer Verurteilung, wurde bei den meisten Deliktsarten am häufigsten zu Zuchtmitteln (Jugendstrafrecht) gegriffen.
 
Insbesondere für die erste Hälfte der 1990er Jahre verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik eine deutliche Zunahme der Jugendkriminalität. Dies betrifft vor allem einfache und qualifizierte Körperverletzungsdelikte, Raub, Betrug, Sachbeschädigungen, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und Tötungsdelikte. Zwar zeigen sich seit Mitte bis Ende des vergangenen Jahrzehnts rückläufige Kriminalitätsbelastungen, nichts desto trotz sorgt eine vermeintlich gewachsene Jugendkriminalität nach wie vor für Diskussionsstoff. Die genannte Kriminalitätszunahme ist, freilich in geringerem Umfang, auch in der Verurteiltenstatistik erkennbar. Doch ergibt sich hieraus ebenfalls, dass der Anteil der Verurteilten, die zu einer Jugendstrafe verurteilt worden sind, zumindest nicht zu, bezüglich einiger Delikte sogar abgenommen hat. Wenigstens aus dieser Statistik lässt sich somit nicht ableiten, dass im vergangenen Jahrzehnt häufiger als früher Personen abzuurteilen gewesen wären, bei denen "schädliche Neigungen" oder die "Schwere der Schuld" (§ 17 II JGG) eine Inhaftierung erforderlich gemacht hätte. Darüber hinaus ergaben Untersuchungen von Straf- und Ermittlungsakten, die in den 1990er Jahren in Hannover und München durchgeführt worden sind, dass sowohl der Anteil der Fälle, in denen ein hoher Sachschaden entstanden oder das Tatopfer erheblich verletzt worden ist, abgenommen hat. Zusammen deuten diese Befunde darauf hin, dass die Zunahme der Jugendkriminalität, wie sie aus der Polizeilichen Kriminalstatistik hervorgeht, nicht alleine auf einer Kriminalitätstzunahme selbst beruht, sondern den Strafverfolgungsbehörden nun mehr Fälle angezeigt werden, die früher nicht offiziell bekannt geworden wären. Diese Annahme wird auch dadurch gestützt, dass sich aus Dunkelfelduntersuchungen eine schwächere Delinquenzzunahme ergibt als die Kriminalstatistiken widerspiegeln. Mehrere Gründe für eine zunehmende Anzeigebereitschaft von Opfern und Zeugen vermeintlicher Straftaten sind denkbar. Einer mag etwa in einer zunehmend spektakulären Kriminalberichterstattung der Massenmedien zu sehen sein. So wurde die Berichterstattung von (Print)Medien über Verbrechen bereits mehrfach untersucht. Dabei zeigte sich, dass in der Berichterstattung Gewaltdelikte deutlich überrepräsentiert sind. Durch verzerrende Kriminalitätsdarstellungen wird somit ein falsches, realitätsfernes und dramatisierendes Bild gezeichnet, das geeignet ist, Kriminalitätsfurcht hervorzurufen und zu verstärken. Wenngleich bisher relativ wenig über einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Kriminalitätsfurcht und Anzeigebereitschaft bekannt ist, gibt es doch eine Reihe von Indizien, die für einen solchen Zusammenhang sprechen. So hat sich gezeigt, dass ältere Menschen, die durch Kriminalität stärker beunruhigt werden, schneller bereit sind, einen vermeintlichen Täter anzuzeigen. Auch Zusammenhänge zwischen überzeichneter Darstellung von Kriminalität und der Bereitschaft zur Anzeigebereitschaft durch Medienkonsumenten deuten sich an.
 
Auch haben nicht "die" Jugendlichen zu einer Zunahme der Kriminalitätsbelastung beigetragen. Vielmehr ist kriminelle Aktivität unter Jugendlichen ungleich verteilt. So zeigen (anonyme) Schülerbefragungen über selbst begangene Straftaten zumindest bis Mitte der 1990er Jahre eine Zunahme der Delinquenz an, die aber bei Weitem nicht so ausgeprägt ist, wie in den offiziellen Statistiken dargelegt. Somit scheinen Schülerinnen und Schüler nur in geringerem Umfang zur Delinquenzzunahme beizutragen. Dies gilt jedenfalls für diejenigen Befragten, die am Befragungstag auch zur Schule kamen und Angaben machten. Somit sind mittels dieses Zugangs keine Aussagen über Tatverdächtige und Täter möglich, die nicht (regelmäßig) zur Schule gehen, nicht in Regelschulen beschult werden oder die Schule bereits abgeschlossen oder abgebrochen haben. Empirische Studien zeigen aber unter Schulschwänzern einen höheren Anteil Delinquenter. Eine Befragung in Mecklenburg - Vorpommern zeigte, dass lediglich etwa 18% der jugendlichen Intensivtäter Regelschulen besuchten. Ergänzend ergaben die Auswertung von Verfahrensakten in Hannover und München, dass ein Großteil der Verurteilten über einen niedrigen Bildungsstand verfügt, die Schule abgebrochen bzw. bereits abgeschlossen hat oder arbeitslos ist. Somit scheint sich Jugendkriminalität bei sozial und schulisch benachteiligten Personen zu konzentrieren. Festzuhalten bleibt allerdings, dass keinerlei Determinismus zwischen schwierigen Bedingungen in der Kindheit und späterer Straffälligkeit existiert. Auch lassen sich diese Umstände nicht zur Grundlage für eine Prognose einer späteren kriminellen Karriere machen.
 
Hauptsächlich aus den genannten Personenkreisen rekrutiert sich auch die noch immer kleine, aber größer werdende Gruppe der Mehrfach- und Intensivtäter. Zusätzlich zum Vorliegen schulischer Probleme haben diese Täter häufig familiäre Defizite verbunden mit einem autoritären und gewaltorientierten Erziehungsstil erlebt und sind bzw. waren in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht. Zwar ist die exakte Definition des Mehrfach- und Intensivtäters nach wie vor umstritten, doch darf davon ausgegangen werden, dass diese Personengruppe, die weniger als 10 % aller auffälligen Jugendlichen umfasst, für mehr als 50 % der nach offizieller Registrierung von Jugendlichen begangenen Straftaten verantwortlich ist. Obwohl diese Jugendlichen mittels Dunkelfelduntersuchungen nur schwer erreichbar sind, zeigte sich in den vergangenen Jahren auch hier eine Zunahme der Mehrfach- und Intensivtäter.
 
Nicht alle Personen, die in ihrer Jugendzeit (als Intensivtäter) strafrechtlich in Erscheinung getreten sind, schaffen den Ausstieg aus der Delinquenz. In der aktuellen kriminologischen Forschung zeichnet sich ab, dass mehrere Faktoren das Beenden krimineller Aktivitäten begünstigen. Zu nennen sind hier etwa die Lösung von innerfamiliären Konflikten, das Eingehen einer stabilen Partnerbeziehung oder das Ende einer Drogenabhängigkeit. Das Vorliegen der genannten Umstände muss aber auch nicht zwangsläufig zur Beendigung einer kriminellen Karriere führen, denn diese Faktoren können durchaus eine ambivalente Wirkung auf kriminalisierbares Verhalten haben.
 
Literatur
 
- Heinz, Wolfgang, Kriminalität in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Jugend- und Gewaltkriminalität, http://www.uni-konstanz.de/rtf/kik/Heinz_Kriminalitaet_in_Deutschland.htm
- Heinz, Wolfgang, Kriminalität von Deutschen nach Alter und Geschlecht im Spiegel von Polizeilicher Kriminalstatistik und Strafverfolgungsstatistik. Konstanz 2004, www.uni-konstanz.de/rtf/kik/krimdeu2002.pdf
- Stelly, Wolfgang / Thomas, Jürgen, Die Reintegration junger Mehrfachtäter, ZJJ 06, S. 45 ff.
- Schulz, Felix, Die Entwicklung der Delinquenz von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden in Deutschland. Eine vergleichende Analyse von Kriminalstatistiken und Dunkelfelduntersuchungen zwischen 1950 und 2000, Münster u.a. 2006 (zum Druck vorgesehen)
 

Felix Schulz
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