Kriminalpädagogisches Schülerverfahren Vertreter der
Strafrechtswissenschaften, der Justiz und des Staatsministeriums der Justiz in Bayern haben im Jahr 2009 das Modell des kriminalpädagogischen Schülerverfahrens entwickelt, angeregt durch das in den USA praktizierte Modell der teen courts. Als Verfahren der
Diversion verfolgt es die Ziele, jugendliche Täter vom Unrecht ihrer Tat zu überzeugen, ohne sie mit einem förmlichen Verfahren zu belasten, ihnen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen und die junge Generation in die Lösung gesellschaftlicher Konflikte einzubinden. Die Konzeption setzt auf die Erfahrung, dass sich Jugendliche in einer Entwicklungsphase, in der sie sich von der Autorität der Erwachsenen lösen, Austausch und Rückhalt bei Gleichaltrigen suchen.
Die ersten Projekte wurden in Aschaffenburg (2000) und Ingolstadt (2003) eingerichtet. Weitere Projekte folgten sowohl in Bayern als auch in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Im baden-württembergischen Kehl wird seit 2005 ein Schülerverfahren im Rahmen der kommunalen Kriminalprävention durchgeführt. Dessen Zielgruppe sind strafunmündige Kinder und Jugendliche, die eine Straftat begangen haben oder sonstiges abweichendes Verhalten zeigen.
Mehrere
Diversionsprojekte wurden wissenschaftlich begleitet und ausführlich dokumentiert: Aschaffenburg (Sabaß 2004), Ingolstadt (Englmann 2009), Augsburg (Schöch/Traulsen 2012), sowie das nach 18 Monaten gescheiterte Hamburger Projekt (Kolberg 2011). Außerdem wurde auch das Kehler Präventionsprojekt evaluiert (Traulsen 2010). Für Projektteilnehmer aus Aschaffenburg und Ingolstadt wurden Rückfallstudien durchgeführt (Schöch/Traulsen 2009, Englmann 2009).
Gesetzliche Grundlage für dieses Schülerverfahren ist § 45 Abs. 2 JGG. Nach h. M. ermöglicht diese Vorschrift dem Jugendstaatsanwalt, selbst geeignete erzieherische Maß-nahmen anzuregen. Es wird vorausgesetzt, dass der Sachverhalt geklärt ist, der Beschuldigte geständig ist und dass er und seine Erziehungsberechtigten in die Überweisung an das Schülergremium einwilligen. Wenn das Verfahren erfolgreich abgeschlossen werden konnte, stellt die
Staatsanwaltschaft in der Regel das Verfahren nach § 45 Abs. 2 JGG ein.
Das Schülerverfahren ist für ein breites Spektrum leichter und mittelschwerer Jugenddelikte gedacht. Um eine Ausweitung der sozialen Kontrolle zu vermeiden, kommen solche Taten nicht in Betracht, bei denen die zuständige
Staatsanwaltschaft das Verfahren üblicherweise nach § 45 Abs. 1 JGG folgenlos einstellt. Darüber hinaus ist das Schülerverfahren auch für jugendspezifische Massendelikte mit geringem Unrechtsgehalt zu aufwändig, selbst wenn die jeweilige
Staatsanwaltschaft eine folgenlose Einstellung nicht in Erwägung zieht. Ausgeschlossen sind andererseits auch schwere Delikte, mit deren
Behandlung die Schüler überfordert wären oder für die der ihnen vorgegebene Sanktionsrahmen nicht ausreicht.
Bei der Auswahl der Beschuldigten gehen die Projekte unterschiedlich vor. In den
Diversionsverfahren wählt teils die Polizei teils die
Staatsanwaltschaft ihr geeignet erscheinende Beschuldigte aus. Die Entscheidung über die Teilnahme am Schülerverfahren trifft immer der Staatsanwalt. Im Kehler Präventionsprojekt kommt der Vorschlag meist direkt von der Polizei.
Das Verfahren wird in der Regel von Vereinen der Jugendhilfe durchgeführt. Die Schüler werden von kooperierenden
Schulen vorgeschlagen oder von bereits erfahrenen Gremiumsmitgliedern angeworben. Eine sozialpädagogisch ausgebildete Fachkraft bereitet sie in Kursen auf ihre Tätigkeit vor. Sie stellt ein zum jeweiligen Beschuldigten passendes Gremium von drei Schülern zusammen und begleitet diese bei ihrer Tätigkeit. Aufgabe der Schüler ist, mit den jugendlichen Beschuldigten ein ausführliches Gespräch über ihre Tat und deren Hintergründe zu führen und eine Maßnahme der Wiedergutmachung mit ihnen zu vereinbaren. Die Maßnahmen sollen möglichst auf den einzelnen Beschuldigten zugeschnitten sein und einen Bezug zur Tat haben.
Die Evaluierung mehrerer Projekte ergab, dass in den meisten Fällen ein offenes Gespräch zwischen Schülern und Beschuldigten zustande kommt und dass die Schüler sich viel Zeit dafür nehmen. Fast immer können sich die Beteiligten auf eine Maßnahme einigen, und nur selten gibt es bei ihrer Durchführung Probleme.
Nach den Erfahrungen bei der Einführung des Täter-
Opfer-Ausgleichs ist es nicht überraschend, dass an dem neuen
Diversionsmodell auch Kritik geübt wird. So befürchten Kritiker beispielsweise, dass die persönlichen Daten der Beschuldigten nicht ausreichend geschützt werden, dass der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit des Jugendstrafverfahrens verletzt wird, dass das Netz der sozialen Kontrolle durch die
Behandlung von Bagatelldelinquenz ausgeweitet wird und Jugendliche dazu neigen, ihre Altersgenossen hart zu bestrafen oder dass das Schülerverfahren finanzielle und personelle Mittel bindet, die bei Mehrfach- und Intensivtätern dringender benötigt würden. Die nicht immer sachlich vorgetragene Kritik beruht teils auf abweichenden Rechtsauffassungen teils auf Schwächen einzelner Projekte, die von den Begleitforschern besonders in der Anfangszeit gerügt wurden. Gelegentlich rührt sie von einer mangelnden Kenntnis des Verfahrens oder von einer missverständlichen Darstellung in den Medien her. Möglicherweise spielt auch das Bedürfnis, Hergebrachtes und Bewährtes zu verteidigen, eine Rolle.
Die in Aschaffenburg und Ingolstadt durchgeführten Legalbewährungsstudien ergaben übereinstimmend, dass sich die Projektteilnehmer strafrechtlich eher günstiger entwickelt haben als vergleichbare Täter, die ein justizielles Verfahren durchlaufen hatten. Die Bedeutung des Schülerverfahrens sollte aber weniger an der Rückfallrate gemessen werden. Sie liegt vielmehr darin, dass den jugendlichen Tätern die Möglichkeit zu einer ausführlichen Aussprache mit Gleichaltrigen gegeben wird, in deren Verlauf sie sich Gedanken über die Folgen ihrer Tat, etwa im Hinblick auf den Geschädigten oder auf die eigene Zukunft, machen können, und dass sie in die Maßnahmenfindung einbezogen werden. Dies macht das Schülerverfahren zu einer sinnvollen Variante der
Diversion.
Literatur:
- Block, Th. und Kolberg, J.: Teen Court - Viel Lärm um Nichts? Hintergründe eines "neuen" jugendstrafrechtlichen Ansatzes. ZJJ 2007, S. 8-18.
- Breymann, K.: Schülergerichte - für wen eigentlich? ZJJ 2007, S. 4–8.
- Englmann, R.: Kriminalpädagogische Schülerprojekte in Bayern. Rechtliche Probleme und spezialpräventive Wirksamkeit eines neuen
Diversionsansatzes im Jugendstrafverfahren. Kriminalwissenschaftliche Schriften Band 25. Münster 2009.
- Englmann, R.: Kriminalpädagogische Schülerprojekte in Bayern. Rechtliche und kriminologische Probleme sowie spezialpräventive Wirksamkeit sogenannter "Schülergerichte". ZJJ 2009, S. 216-226.
- Kolberg, J.: Das Jüngste Gericht: Ein Sturm im Wasserglas? Rezeption der US-amerikanischen Teen-Courts im deutschen
Jugendstrafrecht. Berlin. 2011.
- Sabaß, V.: Schülergremien in der
Jugendstrafrechtspflege - Ein neuer
Diversionsansatz. Kriminalwissenschaftliche Schriften Band 2. Münster 2004.
- Plewig, H.-J.: "Kriminalpädagogische Schülergremien" - Die Rolle Gleichaltriger im
Jugendstrafrecht aus devianzpädagogischer und kriminalpolitischer Sicht. ZJJ 2008, S. 237-245.
- Schöch, H. und Traulsen, M.: Kriminalpädagogisches Schülerprojekt Aschaffenburg. DVJJ-Journal 2002, S. 54–60.
- Schöch, H. und Traulsen, M.: Kriminalpädagogische Schülerprojekte in Bayern. Festschrift für Reinhard Böttcher. Berlin 2007, S. 379–401.
- Schöch, H. und Traulsen, M.: Legalbewährung nach Schülerverfahren. Die strafrechtliche Entwicklung von Jugendlichen, die am „ Kriminalpädagogischen Schülerprojekt Aschaffenburg“ teilgenommen haben. Goltdammer's Archiv für Strafrecht 2009, S. 19–44.
- Schöch, H. und Traulsen, M.: Das kriminalpädagogische Schülerverfahren in der Bewährung. Festschrift für Wolfgang Heinz. 2012, S. 507-520.
- Traulsen, M.: Das Schülerverfahren als kriminalpräventives Angebot der Jugendhilfe. Dargestellt am Beispiel eines Schülerprojekts in Kehl. Festschrift für Heinz Schöch. 2010, S. 267-281.
Monika Traulsen