Macht und Herrschaft Der Begriff der Macht (althochdeutsch: maht) ist aus der Analyse sozialer Beziehungen, somit auch kriminologischer Phänomene nicht wegzudenken. Nach der klassischen – sowohl gern zitierten wie auch kritisierten – Definition von Max Weber ist Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“ (Weber 1978, S. 79). Die Webersche Definition zeichnet sich dadurch aus, dass der Macht ein intentionaler Charakter (Durchsetzung des eigenen Willens) zugeschrieben wird (vgl. Treiber 2007). Dies lenkt den Blick auf den negativ konnotierten Aspekt der Über- bzw. Unterordnung in sozialen Beziehungen, so dass Macht von den einen über andere ausgeübt wird. Da der Fokus auf das Aufeinandertreffen gegensätzlicher Willensäußerungen gelegt wird, kann die Durchsetzung eigener Ziele auf den Widerstand derjenigen, über die Macht ausgeübt wird, treffen. Heinrich Popitz (1992, S. 21f.) hat – basierend auf seinem Begriff von Macht als „Vermögen, sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen“ – diese polare Kodierung übernommen und differenziert in „Macht als Können und Macht als Erleiden“. In dieser Charakterisierung der Macht bleibt die Frage nach den Ressourcen, aus denen sich die Überordnung herleitet, unbeantwortet. Legt man die Webersche Definition zugrunde, dann lassen sich Machthaber eindeutig identifizieren, bleibt die Basis für ihre Machtpositionierung uninteressant und erhält die Macht einen substantiellen Status. Dementsprechend hat Weber auch Herrschaft lediglich als Sonderfall von Macht betrachtet.
Folgt man hingegen Michel Foucault, gibt es „nicht etwas wie die Macht oder einen Stoff der Macht, der in globaler, massiver oder diffuser, konzentrierter oder verteilter Form existierte; es gibt Macht nur als von den ‚einen’ auf die ‚anderen’ ausgeübte“ (Dreyfus & Rabinow 1987, S. 254). Aus dieser, die sozialen Prozesse und Bedingungen von Machtausübung einbeziehenden Perspektive ist Macht nur „in actu“ denkbar, d.h. kein Gut, das einer innehat oder eben nicht (womit er dann als „ohnmächtig“ gilt), sondern Macht beschreibt immer Beziehungen, die als wechselseitige Austauschverhältnisse konzipiert werden. „[D]ie Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen, strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“ (Foucault 1977, S. 114)
Machtanalysen sollten daher in der Lage sein, konkrete soziale Beziehungen und deren Dynamiken einzubeziehen. Machtverhältnisse müssen nach Foucault auf ihr faktisches Funktionieren, ihre Mikropraktiken hin untersucht werden. Michel Foucault ging es nicht darum, eine Theorie der Macht zu entwerfen, sondern eine Analytik der Macht zu konzipieren (vgl. Dreyfus & Rabinow 1987, S. 216).
Auch Jan Philipp Reemtsma entkleidet den Machtbegriff seines negativen Beigeschmacks und betont die Tatsache, dass Macht auf Ermächtigungen beruht. Er betrachtet Macht als soziale Seite der Freiheit, d.h. Machtbeziehungen werden von ihm als wechselseitige Unterstützungsleistungen entworfen (Reemtsma 1997). Er verdeutlicht dies am Beispiel des Bewohners einer einsamen Insel, der zwar ‚frei’ ist, weil er tun und lassen kann, was er will; der jedoch nicht mächtig ist, da ihm soziale Interaktionen fehlen (ebenda, S. 32). Aus dieser Perspektive, die sich auf Hannah Arendt stützt, wird Macht als die Teilnahme und -habe an wechselseitigen Unterstützungsleistungen erfasst. „Wenn wir von jemand sagen, er ‚habe die Macht’ heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln.“ (Arendt 1970, S. 45)
Jene Ermächtigungen (Unterstützungsleistungen) sind für die Machtbeziehung konstitutiv – keine Macht ohne Ermächtigung, keine Macht ohne freiwillige Unterstützung. Vor diesem Hintergrund erscheint das Gegensatzpaar Macht – Ohnmacht wenig fruchtbar für die Analyse komplexer Beziehungen. Machtbeziehungen unter dem Aspekt zu betrachten, Unterstützungen zu leisten und zu erhalten, bedeutet, die Omnipräsenz von Macht anzuerkennen und sich auf die Analyse ihres Funktionierens zu konzentrieren.
Der Begriff der Unterstützungsleistungen taugt zudem dazu, Macht- von Herrschaftsverhältnissen abzugrenzen. Machtbeziehungen sind keinesfalls auf Gewalt zu reduzieren oder mit ihr gleichzusetzen. Macht und Gewalt können vielmehr als verschiedenartige Phänomene begriffen werden (vgl. Arendt 1987). Macht kann sich jedoch mit Gewalt verbinden, tut sie dies systematisch, dann ist von Herrschaftsverhältnissen die Rede (vgl. Reemtsma 1997, S. 33). Gegenüber den instabil angelegten, situationsgebundenen Machtbeziehungen sind Herrschaftsbeziehungen auf Dauer und Stabilität angelegt. Sie funktionieren über Befehle, deren Nichtbeachtung Sanktionen nach sich zieht. Im Rückgriff auf Max Weber bedeutet Herrschaft „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1978, S. 79). In Herrschaftsbeziehungen werden Unterstützungsleistungen nicht freiwillig erbracht, sondern durch den Einsatz von Gewalt bzw. das Drohen mit ihr erzwungen. Damit wird Herrschaft – anders als Macht – zum Nullsummenspiel: wer einen Befehl erteilt oder weitergibt, engt den Raum desjenigen, dem dieser Befehl erteilt wird, ein und erweitert somit seinen eigenen (vgl. Reemtsma 1997, S. 39).
Hannah Arendt (1987, S. 43) hat die Konstellation in einer Macht- bzw. Herrschaftsbeziehung grundsätzlich unterschieden und auf die Formel gebracht: Der Extremfall der Macht findet sich in der Konstellation: „Alle gegen Einen!“, der Extremfall der Gewalt in der Formel: „Einer gegen Alle!“.
In der Kriminologie waren es vor allem die Vertreter des labeling approach (u.a. Tannenbaum, Becker, Sack), die Macht- und Herrschaftsaspekte systematisch in die Analyse als delinquent geltenden Verhaltens einbezogen haben, insbesondere bei der Frage der Normsetzung und der selektiven Sanktionierung von Normbrüchen. Hier findet sich die Idee, abweichendes Verhalten (bzw. besser: als abweichend bezeichnetes Verhalten) nicht als Qualität des Verhaltens selbst anzusehen. Es wird erst durch die Interaktion zwischen den Handelnden und denjenigen, die auf dieses Handeln reagieren, zum abweichenden und damit potentiell zu sanktionierenden Geschehen, wobei Selektionsprozesse eine wesentliche Rolle spielen. Da dieses „Label“ also mehr oder weniger beliebig ist, stellt sich die Frage, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einer angebbaren Region gewisse Handlungen strafbedroht sind und andere nicht bzw. wie sich derartige Etikettierungen im Laufe der Zeit verändern können (z.B. in Bezug auf Homosexualität, Suizid etc.) und wer aufgrund derartiger Handlungen letztlich sanktioniert wird bzw. einer Bestrafung entgeht.
Im Rahmen des labeling approach rücken zudem die Definitionsmacht staatlicher Kontrollinstanzen (Polizei, Gerichte, Gefängnisse) und die damit verbundenen
Stigmatisierungsprozesse der von staatlicher Kontrolle Betroffenen in den Mittelpunkt des Interesses. In diesem Zusammenhang wurde auch das delinquente Handeln der gesellschaftlich Integrierten, die wichtige Positionen in Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung einnehmen, näher unter die Lupe genommen und unter dem Begriff der sog. „Kriminalität der Mächtigen“ (ähnlich: white collar crime, worunter vor allem Delikte aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität fallen, z.B.
Korruption) thematisiert.
In jüngster Zeit ist es vor allem die Konfrontation mit dem internationalen
Terrorismus, die uns die Unterscheidung zwischen Macht- und Herrschaftsbeziehungen, wobei Terror wohl als die extreme Steigerung letzterer gelten kann, schmerzlich vor Augen führt.
Literatur:
• Arendt, Hannah (1970). Macht und Gewalt. München: Piper.
• Dreyfus, Hubert L. & Paul Rabinow (1987). Michel Foucault – Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt am Main: Athenäum.
• Foucault, Michel (1977). Sexualität und Wahrheit. Band 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
• Popitz, Heinrich (1992). Phänomene der Macht. Tübingen: Mohr.
• Reemtsma, Jan Philipp (1997). Freiheit, Macht, Gewalt. S. 31-44. In: Susanne Krasmann & Sebastian Scheerer (Hrsg.). Die Gewalt in der Kriminologie. 6. Beiheft des Kriminologischen Journals, Weinheim: Juventa.
• Treiber, Hubert (2007). Macht – ein soziologischer Grundbegriff. S. 49-62. in: Peter Gostmann & Peter-Ulrich Merz-Benz (2007). Macht und Herrschaft. Zur Revision zweier soziologischer Grundbegriffe. Wiesbaden: VS.
• Weber, Max (1978). Soziologische Grundbegriffe – Sonderausgabe aus: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr.
Schlagworte:
Freiheit, Ermächtigung, Unterstützungsleistungen, Befehl, Gehorsam
Anja Mensching