Neurowissenschaften Unter Neurowissenschaften werden Theorien und Forschungsergebnisse aus mehreren (interdisziplinär aus kybernetisch-systemtheoretischen, anthropologischen, chemischen, physikalischen, (evolutions-)biologischen, anatomisch-medizinischen, psychologischen und sozialen) Einzelwissenschaften begrifflich zusammengefasst. Es handelt sich also nicht um eine in sich geschlossene Wissenschaft, und ihre Ergebnisse sind noch nicht immer systematisch aufeinander bezogen. Die beteiligten Wissenschaftler untersuchen gemeinsam den Aufbau und die Vorgänge im menschlichen Zentralnervensystem auf der Mikro-Ebene (Bau und Funktion der Nervenzellen, Stoffwechselvorgänge und Neurotransmitter), der Meso-Ebene (der Kooperation verschiedener Neuronengruppen, die Funktionseinheiten bilden) und der Makro-Ebene (die Funktion des Gehirns und des gesamten Nervensystems). Sie widmen sich den Mechanismen, mit denen Nervensysteme dazu beitragen, dass Organismen der verschiedenen Arten ihre Lebensvorgänge angepasst an ihre jeweiligen Lebensumwelten vollziehen können. Neben experimenteller Grundlagenforschung geht man medizinischen Fragestellungen wie Ursachen und Heilungsmöglichkeiten von (Nerven-)
Krankheiten nach. Darüber hinaus liefern die Neurowissenschaften auch Anstöße für weitere wissenschaftliche (auch philosophische) Diskurse um Begriffe wie Bewusstsein, Gedächtnis, Seele, Geist, Emotionen, etc.
Der Schwerpunkt der Berichterstattung der Medien (
Medienwissenschaft) über Neurowissenschaften liegt auf bildgebenden Verfahren. Diese Verkürzung ist vergleichbar damit, dass die
Biologie auf das Fotografieren von Pflanzen und Tieren reduziert würde. Andererseits greifen Massenmedien pointiert die These einiger Neurowissenschaftler auf, dass die Entscheidungsvorgänge innerhalb des Gehirns abgeschlossen sind, bevor das Individuum glaubt, einen Entschluss gefasst zu haben (fehlende Willensfreiheit). Deshalb beobachten Kriminologen und Polizeiwissenschaftler misstrauisch neurobiologische Veröffentlichungen, die sich mit dem Gehirn beschäftigen.
Jahrzehntelang wurden die kognitiven und die emotionalen Funktionen des Gehirns getrennt untersucht. Dabei wurde dem kognitiven Bereich der Vorzug gegeben. Dies spiegelte sich innerhalb der soziologischen und kriminologischen Theoriebildung so wider, dass Handeln und Entscheidungen von Menschen stets isoliert verstandesmäßig betrachtet wurden (Rational-choice-Theorie). Erst in den vergangenen Jahren rücken Emotionen verstärkt in den Blick, woraus die kriminologische und polizeiwissenschaftliche Theoriebildung bisher kaum Schlussfolgerungen gezogen hat.
Die Fortschritte der Neurowissenschaften sind auch mit den Fortschritten bei den bildgebenden Verfahren verbunden. Bis zur Erfindung der Röntgenapparate waren Forscher auf die Gehirne Toter angewiesen bzw. konnten nur bei Überlebenden mit Hirnverletzungen untersuchen, welche Funktionen bei ihnen ausgefallen waren. Die Schlussfolgerungen daraus waren entsprechend grob und oft falsch. Erst die Neurologen Paul Broca und Karl Wernicke konnten erfolgreich die Lage von Sprachzentren im Gehirn präzise lokalisieren. Der Bahnarbeiter Phineas Gage, einer der "bekanntesten" Patienten der Neurologie, zeigte nach einem schweren Arbeitsunfall mit Hirnverletzungen Persönlichkeitsveränderungen. An seinem Fall konnte ein Verständnis der Funktion des Präfrontalen Cortex (PFC), in der vor allem soziale Entscheidungen getroffen werden, entwickelt werden.
Mit Röntgengerät und EEG konnten Ärzte erstmals Gehirnstrukturen abbilden und Gehirnfunktionen darstellen. Moderne Verfahren wie die Computer-Tomographie (CT), die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) haben den Vorteil, dass man ohne gravierende Nebenwirkung das menschliche Gehirn beobachten kann. Die technischen Verfahren, die hier nicht näher beschrieben werden können, werden derzeit rasch weiterentwickelt. Durch diese Geräte können Forscher sehen, welche Hirnbereiche bei welchen Aufgaben aktiv werden und wie Hirnbereiche z. B. bei der Lösung von Testaufgaben miteinander kooperieren - man kann dem Gehirn bei der Arbeit zuschauen.
Das Gehirn ist kein Computer. Es arbeitet völlig anders und mit höherer Flexibilität über elektrische und biochemische Reizimpulse. Wenn Gehirnbereiche durch Außenreize oder durch innere Veränderungen aktiv werden, "feuern" die beteiligten Nervenzellen (die Neuronen) elektrische Impulse ab, die chemische Veränderungen an den Verbindungen (den Synapsen) zwischen den einzelnen Nervenzellen auslösen. Diese Vorgänge miteinander sorgen für eine Verbesserung der Verbindungen zwischen den beteiligten Gehirnarealen. Im Unterschied zu Computern gibt es im Gehirn keine unveränderliche "Hardware", sie verändert sich durch Aktivität, durch Lernen in der Lebensumwelt. Natürlich können auch Computer `lernen´, aber nur wenige ändern sich laufend, um auf dieselben Kommandos neue Antworten zu geben.
Menschen lernen lebenslang. Die Lernvorgänge werden im Gehirn organisiert und gespeichert. Aufgabe des Gehirns ist es in erster Linie, das Überleben seines Trägers sicherzustellen. Auch deshalb spielen moderne Evolutionstheorien in den Neurowissenschaften eine wichtige Rolle. Im Verlauf der Entwicklung der höheren Tiere wurden komplexere Verhaltensprogramm immer wichtiger. Wer ein ungeeignetes Programm besaß, geriet unter Dauerstress, hatte weniger oder keine Nachkommen und ist mittlerweile ausgestorben. Dieser Ansatz unterscheidet sich deutlich von bisherigen starren Denkkonzepten, die allein mit der Rolle von Erbanlagen argumentieren. Neben guten Erfahrungen haben Angst und die dadurch entstehende Stressreaktion zur Entwicklung des Gehirns beigetragen. Die Besonderheiten der Stressreaktion beim Menschen ergeben sich aus der enormen Ausdehnung des assoziativen Kortex und der daraus resultierenden Fähigkeit zur langfristigen Speicherung äußerst komplexer Gedächtnisinhalte, zur Bewertung und Kontrolle von Emotionen und zur Steuerung situationsgerechten Verhaltens. Eine Stress- oder Alarmreaktion stoppt alle anderen Vorgänge in Lebewesen, richtet die Aufmerksamkeit auf die Bedrohung, alle verfügbaren Informationen, die zur Analyse und Bewältigung wesentlich sein können, werden abgerufen, zugleich wird der Körper aktiviert. Was letztendlich individuell aus den während der Evolution entstandenen Erbanlagen und Prädispositionen wird, hängt von den jeweils vorgefundenen Entwicklungsbedingungen ab.
Die Umwelt, der sich der Organismus ausgesetzt sieht und mit der er sich auseinandersetzt, sorgt für die konkrete Organisation des Gehirns. Grundlegend ist, dass stets mehrere Bereiche des Gehirns miteinander kooperieren: neuronale Verbindungen, die man nicht nutzt, sterben ab; häufig gebrauchte werden stärker und arbeiten besser miteinander. Gefühle strukturieren dabei das menschliche Gehirn stärker als Gedanken. Aktives Handeln (als Reaktion auf Bedürfnisse und äußre Anforderungen) verändert neuronale Strukturen ebenfalls. Individuelle Erfahrungen - und zwar am ehesten psychosozialer Natur - spielen also eine Schlüsselrolle bei der Formung unseres Gehirns. Das Gehirn ist ein Denk- und ein Sozialorgan.
Das Gedächtnis ist dabei komplizierter als ein Videorecorder: Verschiedene Teile eines Bildes werden in verschiedenen Hirnregionen gespeichert und beim Erinnern abhängig von der aktuellen Situation stets aktiv neu zu einem Bild zusammengefügt. Die enorme Adaptions- und Lernfähigkeit des Gehirns nimmt zwar mit dem Alter ab, aber bei weitem nicht so stark wie vermutet. Lange Zeit dachte man, die Hirnentwicklung sei zum Ende der Jugend abgeschlossen und die neuronalen Netzwerke seien endgültig angelegt. Mittlerweile steht fest, dass sich auch im erwachsenen Gehirn zumindest auf der Ebene einzelner Synapsen noch neue Verschaltungen bilden können. Man weiß inzwischen auch, dass das Gehirn in der Lage ist, sich von Schäden zu erholen. Gesunde Teile können Funktionen von geschädigten Bereichen (zumindest teilweise) übernehmen.
Jedes Kind wird in Bedingungen hineingeboren, die es sich nicht aussuchen kann, die es aber prägen. Dabei organisieren die Gefühle das psychische Erleben. Wichtig hierbei ist die Stressreaktion, die zentral für das Überleben und die Fortpflanzung ist. Kontrollierte Stressreaktionen haben das Ergebnis, dass Menschen besser mit Belastungen umgehen können. Bei unkontrollierten Stressreaktionen kommt es zu anhaltenden Spannungen in Körper und Gehirn, was das weitere Lernen der Menschen beeinträchtigt. Kriminologisch relevant ist, dass ‚erfolgreiche' Lösungen - solche, die den Stress mindern (d. h. nicht unbedingt solche, die das Problem lösen) - immer wieder eingesetzt werden. Die daran beteiligten Hirnregionen bauen durch die gemeinsame Aktivität ihre Verbindungen untereinander immer besser aus, was zur Folge hat, dass sie immer häufiger benutzt werden. Sind die Coping- (d. h. Bewältigungs-) Strategien in der Realität erfolgreich, wird der Mensch kompetenter, seine Fähigkeiten zur Problemlösung wachsen. Sind sie es nicht, wachsen dysfunktionale Muster. Stress spielt bei Lernvorgängen eine positive Rolle - wenn Stress aber zu stark wird oder zu lange andauert, wirkt er zerstörend. Wer in der Kindheit gelernt hat, dass aggressives Verhalten die eigene Angst beendete, wird dieses "Lösungsmuster" wiederholen, auch wenn es in das Gefängnis führt.
Neurowissenschaftler setzen nicht bei der Untersuchung der Gehirne krimineller Menschen an, oft nicht einmal bei Kranken, sondern untersuchen an gesunden Personen, wie das Gehirn auf Reize reagiert. Dies ist interessant für Kriminologie und Polizeiwissenschaften, da viele bisher vorliegende Untersuchungen auf dem Gebiet von forensischer
Psychiatrie und Kriminologie an gefassten Straftätern vorgenommen wurden. Diese Ergebnisse sind deshalb oft pathologiezentriert. Neurowissenschaften ermitteln dagegen, wie Regelungs- und Speicherprozesse bei gesunden Menschen ablaufen. Hierdurch kann sich das Verständnis der Prozesse bei Straftätern vertiefen.
Literatur:
- Greenfield, Susan: Reiseführer Gehirn, Heidelberg/Berlin 2003
- Geyer, Christian: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt/Main 5. Auflage 2004
- Hüther, Gerald:
Biologie der Angst, Göttingen 2004
Michael Stiels-Glenn