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Psychiatrie
 
Begriff der Psychiatrie
Die Psychiatrie ist die medizinische Fachdisziplin, die sich mit der Erkennung, Behandlung, Prävention (Vorbeugung), Rehabilitation (Wiedereingliederung) und Begutachtung der psychischen Krankheiten und Störungen sowie der psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten befasst. Der Begriff „Psychiatrie“ wurde von Johann Christian Reil (1759-1813) geprägt und bedeutet übersetzt etwa „Seelenheilkunde.“ Psychiatrie ist die am stärksten „humanistisch“ geprägte medizinische Disziplin. Sie entspringt der ehemaligen Fachdisziplin Nervenheilkunde, die auch das Gebiet der heutigen Neurologie beinhaltete. Daher wurde früher auch von „Nervenkrankheiten“ oder „Nervenkliniken“ gesprochen. Gegenstand der Neurologie sind primär die motorischen, sensorischen und sensiblen Funktionsstörungen des Nervensystems.
 
Gegenstand der Psychiatrie
Gegenstand der Psychiatrie sind die Krankheitsbilder, bei denen Störungen der psychischen Prozesse (d. h. psychopathologische Symptome) als krankhafte Veränderungen des Wollens, Handelns, des Fühlens, Denkens oder der Erlebnisinhalte auftreten. Diese sind einerseits Ausdruck einer Störung der Funktion des zentralen Nervensystems, also Symptome krankhafter biologischer Prozesse des Gehirns (z. B. eine depressive Störung auf der Grundlage einer Gefäßerkrankung des Gehirns). Sie sind andererseits aber auch Manifestationen von Störungen des sozialen Verhaltens, z. B. der Beziehung des Menschen zu sich selbst und seiner Umwelt. Unter diesem zweiten Aspekt handelt es sich bei psychopathologischen Prozessen nicht um Krankheitssymptome als Ausdruck von biologischen Prozessen, sondern um Erscheinungsformen einer erlebnisreaktiven Störung oder der Persönlichkeitsentwicklung.
 
Historische Entwicklung
Die Entwicklung der modernen Psychiatrie begann im Zeitalter der Aufklärung, als Langermann 1796 erstmals rein ärztliche Grundsätze zur Geisteskrankenbehandlung aufstellte, aus der wesentliche Änderungen in der bis dahin strengen, vielfach grausamen Behandlung der "Irren" resultierten. In Deutschland entstand eine wissenschaftliche Psychiatrie mit Beginn des 19. Jahrhunderts. 1811 wurde in Leipzig der erste Lehrstuhl für Psychiatrie (Heinroth) eingerichtet, im gleichen Jahr wurde das erste psychiatrische Krankenhaus (Schloss Sonnenstein bei Dresden) eröffnet. Griesinger stellte 1845 eine Theorie der körperlichen Ursachen psychologischer Störungen und Krankheiten auf. Kahlbaum lieferte 1863 eine "Gruppierung der psychischen Krankheiten". Unter Führung von Kraepelin wurden die Beobachtungen ab 1883 in einem nosologischen System (System der Krankheitslehre) geordnet, das nach 1909 in wesentlichen Zügen unverändert beibehalten wurde. Die Psychopathologie erhielt durch Jaspers 1913 eine Methodenlehre, Schneider prägte 1931 mit seinen Arbeiten den Krankheitsbegriff der Psychiatrie nachhaltig. Während des Nationalsozialismus ist in Deutschland auch im Bereich der Psychiatrie großes Unrecht geschehen. Psychisch Kranke wurden zwangssterilisiert; bis 1945 wurden über 150 000 psychisch Kranke systematisch ermordet. Nach dem Krieg war das zuvor international hohe Ansehen der deutschen Psychiatrie lang anhaltend zerstört.
 
Die neuere Entwicklung der Psychiatrie
Mit der Entdeckung der Malaria-Kur durch den späteren Nobelpreis-Träger Wagner-Jauregg (1917), der Insulinkomabehandlung (1933), dem Cardiazolschock (1934) und der Elektrokrampfbehandlung (1938) wandelte sich die Psychiatrie von einer mehr kustodialen (verwahrenden) in eine therapeutische Disziplin. Die Entwicklung und Einführung spezieller, das Gehirn beeinflussende Medikamente (Psychopharmaka) in den 1950er Jahren ermöglichte eine zunehmend differenzierte Behandlung psychischer Störungen. Auf der Grundlage der sog. Psychiatrie-Enquete (1975) gab es in Deutschland einen starken Abbau der Versorgung und Betreuung psychisch Kranker in Anstalten (Enthospitalisierung). Für den akuten Bedarf wurden psychiatrische Abteilungen an normale Krankenhäuser angegliedert, für Teilbereiche wie Kindheit, Jugend und Alter haben sich eigenständige Fachrichtungen entwickelt. Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sind in der ambulanten Betreuung von psychisch kranken Menschen tätig, sie arbeiten in den Fachkliniken und stellen auch die Nachsorge nach längeren Krankenhausaufenthalten sicher, zum Beispiel durch Angebote des Betreuten Wohnens. Somit bildet heute die Verbindung von neurobiologischen mit sozialpsychiatrischen Erkenntnissen die Grundlage der modernen Psychiatrie.
 
Der bio-psycho-soziale Ansatz der Psychiatrie der Gegenwart
In den letzten Jahren hat sich die wissenschaftliche Psychiatrie zunehmend in Richtung ihrer Nachbardisziplinen Neurologie und (Neuro-)Psychologie entwickelt („Neuroscience“). Dabei besteht die große Gefahr, dass die Komplexität und Ganzheitlichkeit von psychischen Erkrankungen und ihren sozialen Dimensionen zu stark auf die biologische Komponente reduziert werden. Nicht die von der Person des Kranken losgelöste Krankheit, sondern der erkranke Mensch steht aber im Mittelpunkt des psychiatrischen Fachgebietes (personenzentrierter Zugang). Daher spielt das therapeutische Setting mehr als in anderen medizinischen Fächern eine zentrale Rolle. Die Besonderheit liegt im Leib-Seele-Zugang, der Verbindung von Naturwissenschaft und Humanwissenschaft, dem sog. biopsychosozialen Modell. Dies erfordert den Einsatz sowohl von neurobiologisch-naturwissenschaftlichen als auch von psychologisch-sozialwissenschaftlichen Konzepten.
 
Facharztausbildung Psychiatrie und Psychotherapie
Psychotherapeutische Behandlungsmethoden stellen in der Psychiatrie heute eine wichtige Ergänzung der körperlich-medikamentösen Therapieansätze dar. Während zuvor die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und der Erwerb der Zusatzbezeichnung Psychotherapie voneinander unabhängige Ausbildungsentitäten darstellten, ist die Psychotherapie seit 1992 obligat in die Facharztausbildung integriert worden. Nach einem abgeschlossenen, mindestens sechsjährigen Medizinstudium ist seither eine zumindest fünfjährige Weiterbildungszeit erforderlich, die auch ein Pflichtjahr in der Neurologie beinhaltet. Nach bestandener Prüfung darf man als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (Psychiater und Psychotherapeut) tätig werden.
 
Psychiatrische Disziplinen
Entsprechend der Vielfalt der vorkommenden psychischen Störungen und deren menschlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen haben sich zahlreiche Fachdisziplinen innerhalb der Psychiatrie entwickelt (z. B. klinische Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gerontopsychiatrie, forensische Psychiatrie). Die Abgrenzung zu anderen medizinischen Disziplinen (z. B. Psychosomatische Medizin) ist teilweise fließend. Andere Unterteilungen beziehen sich auf die Art der psychiatrischen Therapie (Psychotherapie, Pharmakopsychiatrie, Ergotherapie) oder auf die theoretischen Grundlagen (anthropologische Psychiatrie, endokrinologische Psychiatrie und Psychosomatik, Psychohygiene, Psychopathologie, biologische Psychiatrie, Ethnopsychiatrie, Psychiatriegeschichte).
 
Diagnoseklassifikationssysteme
Um Stigmatisierungseffekte zu vermeiden, wurde von der WHO der Begriff „Störung“ statt „psychischer Erkrankung“ eingeführt. Störungen werden in einem internationalen Diagnoseklassifikations- und Verschlüsselungssystem (derzeit ICD 10 oder DSM V) deskriptiv erfasst. Während in früheren Fassungen der Klassifikationssysteme noch eine Einteilung der psychischen Störungen in neurotische und psychotische Störungen üblich war, wird in den aktuellen Fassungen entsprechend dem neueren Erkenntnisstand auf diese Begriffe weitgehend verzichtet.
 
Forensische Psychiatrie
Von besonderer kriminologischer Relevanz ist die forensische Psychiatrie, die sich aus der früheren Kriminalpsychiatrie entwickelt hat. Sie ist angesiedelt im Grenzgebiet von Psychiatrie und Recht, das die gerichtlichen Aspekte psychischer Krankheiten umfasst. Hierbei geht es um rechtliche Probleme im Umgang mit psychisch Kranken und Gestörten und um die fachliche Beurteilung ihrer Fähigkeit zu rechtsrelevantem Handeln. Die forensische Psychiatrie widmet sich auch der Behandlung von psychisch gestörten Straftätern.
 
Schlüsselbegriffe:
Psychiatrie, Störung, biologische Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, forensische Psychiatrie, Diagnoseklassifikationssystem
 
Literatur:
- Huber, G. 2005: Psychiatrie. Stuttgart.
- Möller, H. (Hrsg.) 2009: Duale Reihe – Psychiatrie und Psychotherapie. Stuttgart.
- Peters, U. H. 2007: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. München.
 

Martin Peveling
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