Schule (www.krimlex.de)
 
Die Erziehung und Sozialisation von Kindern und Jugendlichen hat sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr von der *Familie auf die Peer Group und die Schule verlagert. Allein der zeitliche Umfang der schulischen Sozialisation (er beträgt 40-60 % der verfügbaren Zeit eines Schülers ab dem 6. Lebensjahr) macht deutlich, welche Bedeutung die Schule auch für die Ausformung sozialen oder abweichenden Verhaltens hat. Ist eine Schule ausschließlich auf Qualifikation, Selektion und bildungsmäßige Integration der Schüler ausgerichtet und vergißt dabei die Förderung sozialer Verhaltensweisen teilweise bewußt (Leistungsprinzip), teilweise unbewußt, dann kann sie als wichtiger Faktor im Kri-minalisierungs- und Deklassierungsprozeß von Jugendlichen angesehen werden. Die generelle Überbetonung kognitiver Lernziele bei gleichzeitiger Vernachlässigung emotionaler Aspekte muß notwendigerweise zu einem Sozialverhalten führen, das egoistisch am Recht des Stärkeren orientiert ist und wichtige Erfahrungen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens (z. B. Rücksichtnahme) nicht kennt.
Zu den sogenannten "gesicherten Erkenntnissen" der Kriminologie gehört es, daß sich bei bestraften Jugendlichen und insbesondere bei Jugendstrafgefangenen wesentlich häufiger als beim Bevölkerungsdurchschnitt schulische Mißerfolge wie Sitzenbleiben, Verweis von der Schule, sowie ein generell niedrigeres Bildungsniveau finden. 1984 hatten etwa die Hälfte aller jugendlichen Strafgefangenen keinen Grundschulabschluß (Bevölkerungsdurchschnitt: 7 %) und bis zu 30 % besuchten die Sonderschule (Bevölkerungsdurchschnitt: 4-6 %). Die Arbeitslosenquote jugendlicher Strafgefangener lag bei 80 %.

Da aber abweichendes Verhalten an sich bei Schülern unterschiedlicher Schulformen generell relativ gleich verteilt ist (*Normalität des Verbrechens, *Dun-kelfeldforschung) - wobei die Formen dieses abweichenden Verhaltens durchaus unterschiedlich sind - kann man generell davon ausgehen, daß schulische Faktoren ebenso wie andere soziale Merkmale eher zur Erklärung von Registrierung und Sanktionierung herangezogen werden können, als daß sie kausal für delinquentes Verhalten verantwortlich zu machen sind.
Die Schule wird insbesondere in Zeiten verstärkten Leistungsdrucks und steigender Arbeitslosigkeit zur sozialen Kontrollinstanz (*Soziale Kontrolle), die direkt und indirekt Einfluß auf *kriminelle Karrieren von Jugendlichen nimmt. Da die Art der Schullaufbahn und der Schulerfolg stark von der Sozialschicht der Eltern abhängen, verstärkt die Schule zumindest indirekt bestehende soziale Benachteiligungen. Sie erzeugt und verfestigt unter Umständen abweichendes Verhalten, indem sie Aufstiegs- und Qualifikationschancen beschneidet. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, daß in Schulklassen Stigmatisierungsprozesse (*Stigmatisierung) ablaufen, denen insbesondere Schüler mit schlechten Leistungen sowie Unterschichtsangehörige ausgesetzt sind. Dazu kommt, daß Lehrer die Ursache für abweichendes Verhalten meist in der Persönlichkeit des Schülers oder im Elternhaus, nicht jedoch in schulischen Bedingungen suchen. Durch die Etikettierung als Außenseiter können Schüler zu abweichendem Verhalten getrieben oder in ihrer abweichenden Rolle verstärkt werden.
Versuche, in der Schule kriminalpräventiv (*Prävention) tätig zu werden (z. B. durch Beratungslehrer, schulpsychologischen Dienst, Rechtskundeunterricht, Trainingsprogramme für Lehrer, Schüler und Eltern) müssen solange erfolglos bleiben, wie "störende" Schüler an Sonderschulen abgegeben werden und die Grundprinzipien der schulischen Bildung nicht aufgegeben werden. Solange Schulerfolg und Schullaufbahn wesentlich über allgemeine gesellschaftliche Chancen entscheiden und solange diese wesentlich davon abhängen, aus welcher sozialen Schicht der Schüler kommt, solange bleibt der Teufelskreis: niedrige soziale Schicht - niedrige Schulbildung - verringerte gesellschaftliche Chancen - abweichendes Verhalten bestehen.

Abweichendes Verhalten in der Schule
Die Beschädigung schulischer Einrichtungen durch Schüler muß inzwischen als ubiquitäres Geschehen angesehen werden. In einer 1983/84 durchgeführten Studie gaben lediglich 13% bzw. 5% der befragten Schüler an, noch nie Objekte in der Schule beschädigt zu haben. 95% berichteten zuletzt (1984) über von ihnen verübten sog. "geringfügigen *Vandalismus", 70% über schwerwiegendere Vorkommnisse.
Bereits Anfang der 70er Jahre wurde das Thema Gewalt (gegen Sachen und Personen) von Schulämtern und Schulbehörden verstärkt thematisiert und abweichendes Verhalten und Schule auch in kritisch-kriminologischem Bezug gesehen. Seit dieser Zeit scheint sich an den Erscheinungsformen ebenso wie an dem Umfang des Problems wenig geändert zu haben, wobei es keine empirischen Hinweise auf eine dramatische Zunahme vandalistischer Delikte im schulischen wie außerschulischen Bereich gibt.
Die Qualität der Gewalt hat auf jeden Fall nicht die Dimensionen erreicht, die aus den USA berichtet werden, wo sich Lehrer in bestimmten Schulen nur noch unter Bewachung oder entsprechendem Eigenschutz (d.h. mit Waffe) in die Schule trauen. Demgegenüber stellen sich die hierzulande berichteten Sachbeschädigungen ebenso wie andere aggressive und gewalttätige Handlungen eher mini-mal dar, auch wenn die dadurch angerichteten finanziellen Schäden in die Millionen gehen und die Schäden, die im emotionalen Bereich und in bezug auf die Normtreue der Nicht-Aggressiven zu verzeichnen sind, sich nicht abschätzen lassen.
Berichtet wurde und wird, daß sich die Umgangssprache der Schüler negativ verändert hat, Spiele und Raufereien der Schüler härter, aggressiver und brutaler wurden, Lehrer und Verwaltungspersonal tätlich angegriffen werden, Drohungen und Nötigungen gegen Mitschüler sowie Sachbeschädigungen in ver-schiedenster Form verübt werden.

In bezug auf die moralische Entwicklung der Schüler und den Bedingungen dafür im schulischen Bereich ist auf folgendes hinzuweisen: Kohlberg, der sich häufig mit der Frage beschäftigt hat, wie Schüler Moral lernen können, kommt zu dem Ergebnis, daß das postkonventionelle Stadium der moralischen Entwicklung, auf dem das Individuum in der Lage ist, moralische Werte und Prinzipien (z.B. die Achtung des Eigentums anderer) nicht nur aufgrund der Autorität anderer Personen zu akzeptieren, sondern aufgrund eigener Einsicht und unabhängig von der Identifikation mit den Meinungen anderer Gruppen, 1. erst nach der Pubertät erreicht werden und 2. nicht durch moralisches Indoktrinieren z.B. seitens der Lehrer erreicht werden kann. Es kann nur auf demokratischem Wege stimuliert und in der Entwicklung gefördert werden. Baacke zieht daraus in Verbindung mit dem sozioökologischen Ansatz den Schluß, daß jede Moralerziehung neben dem kognitiven Training in moralischer Argumentation die emotionale Dimension der Betroffenheit mit einbeziehen und die lebensweltliche Eingebundenheit moralischer Urteile berücksichtigen muß. Entwicklung und Lebenswelt, kognitive Förderung und deren soziokulturelle Einlagerung sind nach seiner Ansicht nicht zu trennen, auch nicht in der Schule.
Entsprechende Schulversuche, in denen konsequent die Trennung zwischen Kognition und Emotion aufgegeben wurde und ein ganzheitlich-lebensweltlicher Ansatz zur Ausbildung gewählt wurde, wurden bereits in den 70er Jahren begonnen. Sie haben sich aber, auch weil sie mit verschiedensten internen und vor allem externen Problemen zu kämpfen hatten, nicht durchsetzen können. Für den Bereich der "normalen", allgemeinbildenden Schulen sind solche Ansätze nur vereinzelt entwickelt und noch weniger umgesetzt worden, weil sie häufig nicht mit Lehrplänen in Einklang zu bringen sind und zudem solche Versuche einen nicht unerheblichen zeitlichen wie persönlichen Zusatzaufwand verlangen, den zu leisten kaum einer der betroffenen Lehrer bereit und in der Lage ist.

Literatur:
- Schule, psychische Probleme und sozialabweichendes Verhalten. Situationsbeschreibung und Möglichkeiten der Prävention. Hrsg. von Kury, H.; Lerchenmüller. Köln u. a. 1983.
- Baacke, D.: Die 13- bis 18jährigen. Weinheim 1985.
- Feltes, Th.: Gewalt in der Schule - Gutachten für die Gewaltkommission. Heidelberg 1989.

Entnommen mit freundlicher Genehmigung des Kriminalistik-Verlages Heidelberg aus der gedruckten Version des Kriminologie-Lexikons, Stand der Bearbeitung: 1991

Nachtrag 2008: s. dazu den Beitrag von Thomas Feltes „Gewalt in der Schule“ in: Der Bürger im Staat“ 2003, Heft 1.

Thomas Feltes