Internationale Strafjustiz (www.krimlex.de)
 
Der Begriff Internationale Strafjustiz im hier verwendeten Sinne bezieht sich auf ein weltweit entstehendes institutionelles System der Strafverfolgung schwerster völkerrechtlicher Verbrechen, wie sie im Kern durch Artikel 5 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes (das so genannte Rom-Statut, in Kraft seit 1. Juli 2002) als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord definiert werden (in Bezug auf Aggressionshandlungen konnte eine rechtsverbindliche Definition bislang noch nicht erreicht werden). Elemente dieses Systems sind sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene zu finden.
 
Mit der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) wurde ein gewisser Durchbruch bei der Schaffung eines permanenten globalen Systems internationaler Strafgerichtsbarkeit erreicht. Gleichwohl kann derzeit noch nicht davon ausgegangen werden, dass der verkündete "Kampf gegen die Straflosigkeit" für Kriegsverbrechen und grobe Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Völkermord auf einem System effektiver Strafverfolgung basiert, welches universell und hinreichend unbeeinflusst von politischen Interessen ist und die Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen als ein funktionierendes Weltprinzip konsequent garantieren würde.
 
Auf internationaler Ebene bestehen neben dem IStGH in Den Haag, der seit seinem Bestehen Situationen potentieller internationaler Strafverfolgung in Darfur (Sudan), der Demokratischen Republik Kongo, der Zentralafrikanischen Republik und in Uganda untersucht, zwei seit 1993 bzw. 1994 tätige ad hoc Tribunale. Diese durch den UNO-Sicherheitsrat autorisierten Tribunale verfolgen zum einen völkerrechtliche Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und zum anderen den Völkermord in Ruanda. So genannte "spezielle Gerichte" (special courts) oder "gemischte" oder "internationalisierte Gerichte" (mixed/internationalised courts), in denen internationale Richter gemeinsam mit nationalen Richtern des jeweiligen Landes Urteile fällen, wurden in Reaktion auf völkerrechtliche Verbrechen z.B. in Sierra Leone (Somalia) sowie Ost-Timor eingerichtet. Ein solches gemischtes Gericht ist 30 Jahre nach Ende des Völkermordes ebenfalls in Kambodscha gegründet worden. Das Spezielle Tribunal für den Irak nimmt in dieser Systematik eine gewisse Sonderstellung ein, da zwar seine Richter und Ankläger Iraker sind, die Einrichtung und Durchführung der Ermittlungen sowie das Verfassen der Anklageschriften jedoch wesentlich durch US-amerikanische und internationale Aktivitäten getragen oder beeinflusst sind. Während der IStGH als ein permanentes internationales Strafgericht eingerichtet wurde und seine Jurisdiktion in personaler und territorialer Hinsicht im Wesentlichen durch die Unterzeichnerstaaten des Rom-Statuts begründet wird, sind die anderen hier aufgezählten Strafgerichte und Tribunale in ihrer Jurisdiktion zeitlich und regional begrenzt.
 
Neben den internationalen (bzw. internationalisierten) Institutionen internationaler Strafjustiz sind nationale Strafjustizsysteme zur Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen verpflichtet. Für Deutschland regelt das Völkerstrafgesetzbuch (seit dem 30. Juni 2002 in Kraft) in detaillierter Weise Tatbestände völkerrechtlicher Verbrechen. Im entstehenden System internationaler Strafjustiz kommt den nationalen Jurisdiktionen im Verhältnis zu internationalen oder internationalisierten Gerichten oberste Priorität bei der Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen zu. Der IStGH bzw. andere internationale und internationalisierte Gerichte sollen nur dann aktiv werden, wenn die nationale Strafverfolgung versagt (so genanntes Komplementaritätsprinzip). Dieses Prinzip basiert auf dem von der UNO-Vollversammlung 2005 bestätigten Konzept der Verantwortung aller Staaten, ihre Bevölkerungen vor groben Menschenrechtsverletzungen zu schützen ("Responsibility to Protect", "R2P"), Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen und damit zum Menschenrechtsschutz und globaler Sicherheit beizutragen.
 
Historisch wird der Beginn der Strafverfolgung von Personen, die sich im Zusammenhang kollektiver Gewaltanwendung im Rahmen bewaffneter staatlicher oder innerstaatlicher Konflikte der Begehung schwerer Verbrechen, in der Regel massiver Tötungsverbrechen, schuldig gemacht haben, im Mittelalter angesiedelt. Gleichwohl muss der Anfang moderner internationaler Strafjustiz im Wesentlichen mit dem Entstehen völkerstrafrechtlicher Grundlagen, wie der Genfer und Haager Konventionen mit Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts angesetzt werden. Jedoch sollten selbst nach Bestehen dieser normativen Grundlagen für internationale Strafverfolgung Jahrzehnte vergehen, bis es zu ersten Verurteilungen kommen konnte. Während nach dem Ersten Weltkrieg praktische Versuche der Bestrafung für Kriegsverbrechen eher zum Schein unternommen wurden (eine Liste mit 900 Verdächtigen wurde auf 40 Personen reduziert), kam es erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Ergebnis von Strafverfahren an den Militärtribunalen in Nürnberg und Tokio zu nennenswerten Verurteilungen gegen die Hauptverantwortlichen für Holocaust und schwerste Kriegs- und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zugleich wurden in diesen Verfahren erste Grundsätze des modernen Völkerstrafrechts entwickelt und praktiziert. In einer großen Anzahl von Nachfolgeverfahren in Ost- wie in Westdeutschland und darüber hinaus bei der strafrechtlichen Aufarbeitung von Verbrechen und Kollaboration während der Zeit der faschistischen Okkupation in europäischen Ländern wurden Verbrechen im Zusammenhang mit staatlicher Gewalt und bewaffneten Konflikten historisch erstmalig massenhaft geahndet. Trotz aller Diskussionswürdigkeit von Teilen der hier beschriebenen internationalen Strafverfolgung und von Einzelfällen (zum Beispiel Nichtverfolgung oder Nichtbestrafung offenkundiger Verbrechen), muss in historischer Perspektive festgehalten werden, dass der Bann allgemeiner Straflosigkeit für Verbrechen im Kontext bewaffneter Konflikte und staatlicher Gewaltanwendung gebrochen war.
 
Allerdings vergingen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges fast 50 Jahre, bis Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre Bemühungen zur Schaffung einer permanenten internationalen Strafgerichtsbarkeit im Kontext der Gründung der ad hoc Tribunale in Den Haag und Arusha zur Einrichtung des IStGH führten. Der "Schlachtruf" dieser Bewegung zur Schaffung eines permanenten internationalen Strafjustizsystems, in dem internationale neben nationaler Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen praktiziert wird, ist "Kampf gegen die Straflosigkeit". Der gesellschaftliche Hintergrund für die Entstehung des internationalen Strafjustizsystems besteht im globalen Wandel internationaler Beziehungen und einer neuen Qualität des Völkerrechts, in dem eine veränderte Rolle nationalstaatlicher Souveränität mit der Herausbildung neuer Prinzipien globaler Kontroll- und Sicherheitsstrategien, darin eingeschlossen internationaler Strafjustiz, verbunden sind (global gouvernance).
 
Wenngleich die Entstehung einer permanenten internationalen Strafjustiz mit dem Ziel effektiven Menschenrechtsschutzes überwiegend positiv bewertet wird, stehen Antworten auf kritische Fragen bereits erkennbarer Risiken in dieser Entwicklung noch aus. Eine der wesentlichen Herausforderungen, vor der die internationale Strafjustiz angesichts fehlender Gewaltenteilung auf internationalem Gebiet steht, besteht darin, zuverlässige Garantien gegen "Siegerjustiz" und das "Recht des Stärkeren" zu schaffen, um letztlich globale Akzeptanz für eine glaubhafte, universale Durchsetzung der Prinzipien des Völkerstrafrechts zu erreichen. Nur dann kann ein machtpolitisch begründeter "doppelter Standard" internationaler Strafjustiz vermieden und ein friedensstiftender Beitrag bei der nachträglichen Bewältigung der Folgen bewaffneter Konflikte auch mit strafrechtlichen Mitteln erreicht werden.
 
Literatur:
 
- Ambos, K.: Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht - Völkerstrafrecht - Europäisches Strafrecht. München 2006. Eser, A.
- Kreicker, H. (Hrsg.): Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen - National Prosecution of International Crimes, Freiburg 2003
- Roggemann, H.: Die internationalen Strafgerichtshöfe. Berlin 1998
- Schabas, W. A.: An Introduction to the International Criminal Court. Cambridge 2001.
 

Uwe Ewald