Bagatellkriminalität (www.krimlex.de)
 
Obwohl der Begriff der "Bagatellkriminalität" in der Strafrechtswissenschaft, Kriminologie, Kriminalpolitik und in der Soziologie durchaus häufig genutzt wird, fehlt es an einer klaren, einheitlichen wissenschaftlichen Definition.
Bereits begrifflich lässt sich jedoch festhalten, dass die Bagatellkriminalität Bestandteil der Kriminalität sein muss. Ebenfalls aus der sprachlichen Herleitung ergibt sich dass die "Bagatellkriminalität" die Kriminalität bezeichnet, die von einer gewissen Geringfügigkeit geprägt ist.
Legt man bei dieser rein begrifflichen Betrachtung nun den strafrechtlichen Kriminalitätsbegriff zu Grunde, der alle Handlungen umfasst, die durch ein Kriminalgesetz mit einer Rechtsfolge bedroht sind, so kommt man zunächst zu folgender Standortbestimmung:
Ein Delikt aus dem Bereich der Bagatellkriminalität ist ein geringfügiger Verstoß gegen ein Kriminalgesetz. Somit muss die Handlung einen Tatbestand eines Kriminalgesetzes (wie z.B. das StGB, BtmG, usw.) erfüllen.
Die Bagatellkriminalität markiert demnach den Übergang zwischen dem nach strafrechtlichen Normen zu sanktionierenden Verhalten und dem sozialschädlichen devianten Verhalten, welches nicht mit strafrechtlicher Sanktionsfolge normiert wurde.
Dies bedeutet, dass die Bagatellkriminalität als Grenze der strafrechtlichen Kriminalität zum einen vom devianten Verhalten abzugrenzen ist, das "lediglich" soziale Interventionen zur Folge hat. Zum anderen ist die Bagatellkriminalität im Besonderen auch von den Ordnungswidrigkeiten abzugrenzen. Durch die Abschaffung der Übertretungen im materiellen Strafrecht und die damit verbundene Entkriminalisierung vielzähliger Tatbestände durch die Überführung in das System der Ordnungswidrigkeiten wird die Grenze formal sichtbar.
Dem Gesetzgeber obliegt es nach kriminalpolitischen Erwägungen ein Verhalten in dem Bereich der Kriminalstrafe anzusiedeln oder eine ordnungwidrigkeitenrechtliche Reaktion zu normieren. So klar die Grenze in formaler Hinsicht bei bestehenden Normen ist, so gibt sie dennoch keine Hinweise auf die Bestimmung des Rechtsbegriffs der "Bagatellkriminalität" bzw. der "Geringfügigkeit".
Daher hilft auch diese Standortbestimmung nicht allein, um den Begriff der Bagatellkriminalität zu erfassen. Hierbei ist und bleibt es problematisch, dem Begriff der "Geringfügigkeit" einen klaren und bestimmbaren Rahmen zu geben.
So schwierig die Definition der Bagatellkriminalität bzw. des Merkmals der "Geringfügigkeit" ist (einige halten eine Definition sogar für unmöglich), so vielfältig sind die Definitionsversuche (siehe umfassenden Überblick über die verschiedenen Definitionsansätze in Priebe (2005).
Kaiser (1978) gelingt hier wohl der pragmatischste Ansatz. Bagatellkriminalität ist für den Autor somit "ein Sachverhalt, auf den in einer besonderen Weise reagiert wird, nämlich in abgeschwächter und vereinfachter Form" Dieser Definitionsansatz qualifiziert sich besonders, weil er sich im Rahmen der (verfahrens-)rechtlichen und (kriminal-)politischen Wirklichkeit bewegt. Der Begriff ist adaptiv. Er wird nicht allein dogmatisch fixiert, sondern er kann auf gesellschaftliche Einstellungen gegenüber deviantem Verhalten reagieren. Der Begriff der Bagatellkriminalität ist demnach mindestens ebenso dynamisch wie der strafrechtliche Kriminalitätsbegriff. Diese Definition ist offen für kriminalpolitische Entwicklungen der Ent-, De- und Neukriminalisierung.
Allerdings ist dieser Ansatz, trotz der Vorteile einer offenen und dynamischen Begriffsbestimmung, hinsichtlich der Typisierung wie folgt zu begrenzen:

1. Als Bagatelldelikte kommen lediglich Vergehen in Betracht. Dies ist zum einen rechtsdogmatisch zu begründen, da eine Bagatelle angesichts der Geringfügigkeit allein vom devianten nicht kriminalsanktionierten abzugrenzen ist; eine Grenzziehung zwischen einem Verbrechen und einem Bagatelldelikt ist angesichts der nicht vorhandenen Nähe nicht erforderlich. Ferner findet sich auch eine Verfahrensrechtliche Begründung. Auch der Gesetzgeber hat die Einstellungsmöglichkeiten aus Opportunitätsgründen gemäß § 153 StPO und § 153 a StPO ebenfalls lediglich für Vergehen vorgesehen.

2. Ebenso können keine qualifizierten Tatbestände dem Bereich der Bagatellkriminalität zugeordnet werden. Die Erfüllung der Qualifikationstatbestandmerkmale führt zu einer Steigerung der Schwere des durch die Handlung begangenen Unrechts. Die Qualifikation verschiebt das Delikt daher vom Unrechtsgehalt (und daher auch vom Bereich des Strafrahmens) in die Richtung des Verbrechens, so dass auch hier eine Distanz zur Grenze der Devianz entsteht, die eine Einstufung als Bagatelldelikt nicht mehr zulässt.

3. Der Bereich der Bagatellkriminalität ist nicht auf die Eigentums- und Vermögensdelikte beschränkt. Eine entsprechende Delikttypisierung ist nicht erforderlich. Dies entspräche auch nicht der (verfahrens-)rechtlichen Praxis. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass § 153 StPO und § 153 a StPO die Einstellung aus Opportunitätsgesichtspunkten ebenfalls keine entsprechende Einschränkung vornimmt. Ferner sind gerade Tatbestände wie Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Bedrohung und Beleidigung teilweise über das Strafantragserfordernis (§§ 77 ff StGB) insgesamt aber durch den Verweis auf den Privatklageweg (§§ 374 ff StPO) bereits aus der zwingenden staatlichen Offizialprinzip herausgenommen. Dies spricht dafür, dass sich (auch) bei diesen Delikten bereits aus dem Gesetz ergibt, dass kriminalpolitisch nur ein geringes staatliches Verfolgungsbedürfnis besteht.

4. Ferner können auch Fahrlässigkeitsdelikte dem Bereich der Bagatellkriminalität zugeschrieben werden. Auch dies entspricht weitestgehend der rechtlichen Praxis. Fahrlässigkeitsdelikte, sind insbesondere durch Handlungen im Straßenverkehr Massendelikte.

5. Inwieweit bei Eigentums- und Vermögensdelikten eine konkrete Wertgrenze erforderlich ist, erscheint fraglich. Die Rechtsprechung und auch die Staatsanwaltschaften haben im Rahmen des verfahrensrechtlichen ("gering" in § 153 StPO) und des materiell-rechtlichen Rahmens (§ 248a StGB - Diebstahl geringwertiger Sachen) von einer objektivierten Wertbemessung Gebrauch gemacht. So pendelt sich hier ein Wert von 50 bis 75 € ein, bis zu dem "Geringfügigkeit" anzunehmen ist. Ob diese Wertbestimmung für die Bestimmung der "Geringfügigkeit" bzw. von "Bagatellkriminalität" rechtsdogmatisch überzeugt, kann insofern dahinstehen, als dass sich ein derartiger Rechtspragmatismus stets durchsetzen wird. Diese Wertbestimmung ist vertretbar, sofern sie tatsächlich dynamisch ist und temporär den gesellschaftlichen Realitäten angepasst wird.

Ein Bagatelldelikt muss ein nicht-qualifiziertes Vergehen sein. Bagatelldelikte sind weder auf Eigentums- und Vermögensdelikte noch auf Vorsatzdelikte beschränkt. Sofern es sich allerdings um ein Eigentums- oder Vermögensbegriff handelt, indiziert ein Wert der geschädigten Sache/ des geschädigten Vermögens in Höhe von zur Zeit bis zu 75 € grundsätzlich die Zugehörigkeit des deliktischen Verhaltens zur Bagatellkriminalität. Neben dieser strafrechtsdogmatischen Eingrenzung der eher kriminalpolitisch bzw. rechtspragmatisch geprägten Begriffsbestimmung von "Bagatellkriminalität" gibt es noch kriminologische Kennzeichen der Bagatellkriminalität. Auch diese allgemeinen kriminologischen Merkmale sollten bei der individuellen Einordnung, ob eine deliktische Handlung nun ein "normales" strafrechtliches Vergehen darstellt oder eher ein Bagatelldelikt, Berücksichtigung finden. Bagatelldelikte sind Massendelikte. Ebenso wie diese Delikte bei der registrierten Kriminalität den Großteil ausmachen, sind Bagatelldelikte auch ubiquitär. Diese sich bereits aus der Untersuchung des Hellfeldes ergebenden kriminologischen Kennzeichen, verdeutlichen sich noch durch die Dunkelfeldforschung. Mit steigender Geringfügigkeit des Delikts vergrößert sich das Dunkelfeld. Ebenso ist die Begehung eines Bagatelldelikts bei den jeweiligen Tätern eher episodisch (Kaiser 1993).
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der Begriff der Bagatellkriminalität sowohl strafrechtsdogmatisch, als auch kriminalpolitisch-pragmatisch und kriminologisch zu betrachten ist. Dies hat zur Konsequenz, dass es keine starre Begriffsbestimmung geben kann. Bagatellkriminalität ist vielmehr offen und dynamisch zu bestimmen. Die Einordnung einer deliktischen Handlung zur Bagatellkriminalität muss hingegen an den dargestellten Kriterien orientiert sein, ohne dabei den jeweiligen Einzelfall aus dem Blick zu verlieren.

Literaturhinweise:
- Kaiser, Günther Bagatellkriminalität in: Kaiser/ Kerner/ Sack/ Schellhoss (Hrsg.), Kleines kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage, Heidelberg 1993
- Kaiser, Günther Möglichkeiten der Bekämpfung von Bagatellkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, ZStW (90) 1978, S. 877 ff
- Priebe, Klaus Zur Kodifizierung der "Bagatellkriminalität" in Deutschland und Europa, Potsdam 2005

Meik Portmann