Chicago-Schule (www.krimlex.de)
 
Mit dem Namen "Chicago-Schule" werden in mehreren wissenschaftlichen Disziplinen (Soziologie, Philosophie, Anthropologie, Ökonomie, Architektur, Theologie, Literaturwissenschaft etc.) maßgebliche Forschungsansätze bezeichnet, die im frühen 20. Jahrhundert an der University of Chicago entstanden sind. Diese wurde im Jahre 1892 mit Hilfe von Geldern der Rockefeller Oil gegründet wurde, entstand die erste und bis etwa 1930 dominierende Schule der Soziologie in Amerika. Letztere war in ihren Anfängen hauptsächlich sozialreformerisch orientiert und interessierte sich für die praktische Nutzung der Soziologie im Sinne einer "Sozialtechnologie".
 
Bestimmend für den Stil der Chicago-Schule sind dann aber qualitativ-empirische, ethnographische Studien geworden, die oft um soziale Desintegration kreisten (Scheidungen, Selbstmord, Jugendbanden, Obdachlose, Prostitution). Einige zentrale Figuren der ersten Schule sind George H. Mead, William I. Thomas, Ernest W. Burgess, Robert E. Park, Herbert Blumer, Ellsworth Faris, Albion Small, Jane Addams, Edith Abbott und Marion Talbot. Die soziologische Chicagoer Schule begründete den Theorieansatz des Symbolischen Interaktionismus, aus dem später auch die für die Kriminologie bedeutsame Etikettierungstheorie (labeling theory) hervor ging. Die zweite Chicago-Schule nach dem Zweiten Weltkrieg führte insbesondere Meads Symbolischen Interaktionismus weiter. Berühmte Studien sind etwa "Becoming a Marihuana User" (1953) von Howard S. Becker und "The Moral Career of the Mental Patient" (1959) von Erving Goffmann.
 
Innerhalb der Chicago-Schule wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Etikett der "Sozialökologie" (human ecology), verbunden mit dem Namen von Robert E. Park, Prozesse der wechselseitigen Anpassung zwischen menschlichen Gemeinschaften und ihrer physisch-räumlichen Umwelt untersucht. Vor dem Hintergrund der schnellen Verstädterung und der damit zusammenhängenden sozialen Probleme, war von besonderem Interesse, wie unter den Bedingungen städtischer Lebensräume, Subkulturen und Milieus kriminelle Handlungen zustande kommen. Dabei ging es vor allem um die Entstehung (groß-)städtischer Siedlungssysteme, um deren Wachstum und innere Differenzierung. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass Kriminalität in bestimmten Gegenden besonders gehäuft auftrat. Als "natural areas" wurden solche Gegenden bezeichnet, in denen kriminelles Handeln besonders leicht zu "gedeihen" schien.
 
Sozialökologisch war der Ansatz, weil Relationen zwischen Stadtraum, Nachbarschaften und den dort lebenden Menschen hergestellt wurden. Außer Kriminalität galt auch anderen als "sozialpathologisch" aufgefassten Phänomenen wie Prostitution, Geisteskrankheit und die ethnische Organisation von Wohnquartieren besondere Aufmerksamkeit. Hier sei exemplarisch erwähnt, weil besonders prominent, die "concentric zone theory" (Park, Burgess, McKenzie, Shaw, McKay). Sie beschreibt das Modell einer Stadt, deren Geschäftszentrum der Kern ist, umgeben von weiteren Stadtgebieten in konzentrischen Kreisen. Das Geschäftszentrum dehnt sich aus und die direkt umgebende Zone, in der sich die Wandlungsprozesse unmittelbar auswirken, ist die so genannte "transition zone". Empirisch ist hier eine besonders heterogene Bevölkerungsstruktur festzustellen, die zumeist in qualitativ schlechten Wohnungen, instabilen Familienverhältnissen und mit niedrigem sozioökonomischem Status leben. Die erhöhten Kriminalitätsraten in den Übergangszonen wurden so erklärt, dass durch die stadträumlichen Wandlungsprozesse das soziale Gefüge desorganisiert werde und der Norm- und Wertekonsens, auf dem das alltägliche Miteinander aufbaut, fehle. Traditionelle Institutionen wie Nachbarschaften, Schulen und Familie würden keine tragenden Rollen mehr spielen. Umso leichter würden kriminelle Einstellungen und Verhaltensweisen übernommen und erlernt von jenen, die sie bereits praktizieren. In den Wohngebieten, welche wiederum die Übergangszone umgeben, waren dagegen niedrigere Kriminalitätsraten festzustellen. Im Zonenmodell wird das Kriminalitätsproblem im Wesentlichen einerseits auf ein Versagen herkömmlicher Mechanismen sozialer Kontrolle und andererseits die Wirkung sozialer Lernprozesse zurückgeführt. Grenzen findet dieser Ansatz darin, dass er nicht ohne Weiteres erklären kann, warum Menschen aus dem kriminalitätsaffinen Milieu, den gleichen sozialen Umweltbedingungen ausgesetzt, dennoch nicht kriminell werden.
 
Der unschätzbare, in der deutschen Kriminologie aber nicht ausgegriffene und gepflegte Beitrag vor allem der Chicagoer Forscher Henry D. McKay, Robert E. Park, Clifford R. Shaw und Frederic M. Trasher besteht darin, eine ausgesprochen empirische Soziologie krimineller Handlungen und Milieus vorangebracht zu haben. Hier werden die Menschen beim Vollzug ihrer Alltagspraxis beobachtet und theoretische Befunde erst über die Einzelbeoachtungen aggregiert. Einschlägige Forschungsmethoden sind die teilnehmende Beobachtung und das offene ethnographische Interview. Neben der zentralen Frage, aufgrund welcher Prozesse Menschen dazu kommen, kriminell zu handeln, war es für diese Art von Kriminalsoziologie auch bedeutsam zu untersuchen, wie Menschen sich einen kriminellen Lebensstil aneignen. So wurden Fälle rekonstruiert (case study) und die Lebenspraxis auf ganze Lebensgeschichten (life-history) und auf das urbane Milieu im aktuellen Lebensumfeld bezogen.
 
Literatur:
 
- Bulmer, M. 1986: The Chicago School of Sociology. Institutionalization, Diversity, and the Rise of Sociological Research, Chicago
- Eifler, St. 2002: Kriminalsoziologie, Bielefeld
- Harvey, L. 1987: Myths of the Chicago School of Sociology, Aldershot
- Nock, D. 2004: The Myth about "Myths of the Chicago School": Evidence from Floyd Nelson House, in: American Sociologist, 35/1, 63-79
- Shaw, Cl./McKay, H. D. 1942: Juvenile Delinquency and Urban Areas. A Study of Delinquents in Relation to Differential Characteristics of Local Communities in American Cities, Chicago
- Trasher, Fr. M 1936: The Gang. A Study of 1313 Gangs in Chicago, Chicago
 

Peter Stegmaier